Aug’ in Auge
Schauspielerin Sylvia Sidney im Alter von 88 Jahren gestorben
Sie hatte wahrscheinlich die größten Augen Hollywoods. Wenn die Kamera Sylvia Sidney in Großaufnahme zeigte, konnte selbst Bette Davis einpacken. In dem herzförmigen Gesicht über dem blütenartigen Mund schimmerten Augen, in denen sich die ganze Welt zu spiegeln schien – und vor allem das ganze Leid dieser Welt. All die Sehnsucht, all die Tränen, die diese Augen bereithielten, machten Sidney zur perfekten Heldin der Depressionsjahre. Das Glück, von dem sie träumte, schien in ihrem Blick schon zu zerrinnen, ehe sie es festhalten konnte. Aparterweise hieß ihr erster Film im Jahre 1929 auch THRU DIFFERENT EYES.
Sylvia Sidney hieß eigentlich Kosow, Tochter eines rumänischen Vaters und einer russischen Mutter, die sich in Brooklyn niedergelassen hatten. Sie hatte mit 16 ihr Debut am Broadway und ging mit 19 nach Hollywood. Bei der Paramount, deren Filme die Welt mit einem seidigen Glanz versahen, war sie neben Marlene Dietrich, Miriam Hopkins und Claudette Colbert gut aufgehoben, aber nach kurzer Zeit schon gingen ihr die ständigen Opferrollen auf die Nerven. So verletzlich sie auch aussehen mochte, so handfest war sie offenbar im wirklichen Leben. Und in Japan wurde sie nach ihrem Auftritt als Madame Butterfly 1932 so populär, das ihr Porträt auf Kondompackungen zu sehen war, die dann auch SYLVIASYDNEYS hießen. Mitte der Dreißiger verließ sie Paramount, weil sich gerüchteweise B. P. Schulberg in sie verliebt hatte und seine Ehe retten wollte.
Sylvia Sidney spielte 1936 in Hitchcocks SABOTAGE jene Szene, die buchstäblich zeigt, was passieren würde, wenn Blicke töten könnten. Da sitzt sie mit ihrem Mann (Oscar Homolka) beim Abendessen, und man kann zusehen, wie angesichts eines Brotmessers der Gedanke, ihn zu töten, in ihr hochsteigt. Natürlich war das bei Hitchcock keine Sache der Mimik, sondern der Montage.
Dann war sie die Heldin in Fritz Langs ersten drei amerikanischen Filmen: FURY, YOU ONLY LIVE ONCE und YOU AND ME – und stets ist ihrem Gesicht schon das Unglück eingeschrieben, das ihrer Liebe widerfahren wird, die Panik und die Einsicht, wie ohnmächtig private Gefühle den Emotionen der Gesellschaft ausgeliefert sind. Im Krieg wandte sich Sidney wieder mehr dem Theater zu, kehrte kurz zum Kino zurück, um Mitte der Fünfziger ihre Karriere an den Nagel zu hängen. Erst 1973 feierte sie ein Comeback in SUMMER WISHES, WINTER DREAMS, was ihr eine Oscarnominierung einbrachte. Danach arbeitete sie viel fürs Fernsehen, hatte aber auch Auftritte in Filmen wie DAS OMEN II, HAMMETT von Wim Wenders, als Johnny Rottens Mutter in COPKILLER und schließlich in BEETLEJUICE und MARS ATTACKS! von Tim Burton.
Letzteres, so ließ sie vernehmen, sei allerdings die Sorte Film, bei der sie nach der Hälfte einschlafe. Auch die Arbeit daran sei unbefriedigend, weil sie dauernd an Orten und mit Figuren spielen müsse, die sie gar nicht zu Gesicht bekomme, da sie erst nachträglich eingefügt werden. Das ändert aber nichts daran, daß sie darin immer noch eine phantastische Figur machte. Denn sie sah – was in Hollywood selten genug vorkommt – nicht aus wie eine Frau, die sich irgendwelche Versäumnisse vorzuwerfen hat. 88 Jahre und mit Anstand alt geworden – das ist kein schlechtes Ergebnis.
„Wir hatten noch Gesichter damals”, hat mal eine ihrer Kolleginnen gesagt. Stimmt. Aber keine hatte Augen wie Sylvia Sidney. Am Donnerstag ist sie in New York gestorben.