13. November 2003 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Interview | Jean-Claude Carrière

Der Mann ohne Ego

Jean-Claude Carrière über alte Regisseure und junge Mädchen und ein legendäres Essen im Jahr 1972

Monsieur Carrière, Sie waren bei dem legendären Mittagessen dabei, das George Cukor 1972 für die Größten des Kinos gegeben hat. Wie kam es dazu?
Luis Buñuel wurde 1972 zum Los Angeles Film Festival eingeladen. Wir waren dort, um DER DISKRETE CHARME DER BOURGEOISIE zu präsentieren. Ich kannte L.A., weil ich dort mit Jacques Deray einen Film mit Jean-Louis Trintignant gedreht und ein paarmal George Cukor getroffen habe. Cukor rief mich an und sagte, er habe gehört, daß Buñuel in der Stadt ist: „Ich würde ihn gerne kennenlernen und mit ein paar Freunden zum Mittagessen einladen.“ Wir gingen also hin mit unserem Produzenten Serge Silberman und Buñuels Sohn Raffael, der in L.A. lebte. Cukor lebte in einem riesigen Haus, in dessen Garten lauter echte römische Statuen standen, purer Luxus. Ich stand mit einem Cocktail am Fenster und sah auf der Treppe einen sehr alten Mann, der von einem unglaublich kräftigen Schwarzen hochgetragen wurde. Es war John Ford. Er kam rein und sagte: „Ich habe gehört, Buñuel ist hier.“ Und danach tauchten Hitchcock und Billy Wilder, George Stevens, Robert Wise und Ruben Mamoulian auf. Obwohl er im tiefsten Herzen ein Rebell war, zeigte sich Buñuel sehr bewegt von dieser privaten Hommage des amerikanischen Kinos an ihn. Danach gingen wir ins Eßzimmer, ich saß neben Buñuel, Hitchcock gegenüber, der auf Diät war und außer ein bißchen Fisch nichts essen konnte. Zwei Monate vorher hatte Hitchcock im amerikanischen Fernsehen auf die Frage, wer seine Lieblingsregisseure seien, gesagt: „Außer mir nur Buñuel.“ Hitchcock beschrieb Buñuel eine der Einstellungen aus TRISTANA: Wie sie am Klavier sitzt, die Kamera ihr Gesicht zeigt, dann an ihr herunterfährt, bis man ihr Holzbein sieht, und dann wieder hinauf, wo man plötzlich ein anderes Gesicht sieht. Und Buñuel war erstaunt, daß offenbar alle Anwesenden diese Szene auswendig kannten. Er hatte wirklich gedacht, er sei völlig unbekannt, ein Name, der allenfalls den Afficionados was sagt. Dann mußte John Ford gehen, weil er bereits krank war – er starb zwei, drei Monate später. Und Stevens brachte einen Toast aus: „Ich trinke auf das, was uns zusammengebracht hat.“ Und Buñuel entgegnete: „Ich auch, aber ich habe meine Zweifel.“
Ich hatte die Idee, einen Fotografen zu holen. Als er ankam und diese ganzen Leute sah, war er geschockt. Und dann wollten all die alten Herren Anweisungen geben, Hitchcock vor allem, aber Billy Wilder setzte sich durch. Er sagte nur: „Sei still, Alfred, du hast doch keine Ahnung, wie man ein Foto macht.“ Wenn man das Foto ansieht, sitzt Wilder ganz links außen, weil er als letztes aufs Bild kam.
Fritz Lang war eigentlich auch eingeladen, konnte aber nicht kommen. Also lud er Buñuel zu einem Essen zu zweit ein. Weil er für Buñuel der Größte war, war Luis den ganzen Morgen sehr aufgeregt und fragte mich sogar, welche Krawatte er anziehen sollte. Er war damals schon 72, aber so schüchtern und nervös wie ein junger Mann. Lang war zehn Jahre älter. Buñuel ging also hin und kam zurück mit einem Päckchen unterm Arm. Ich fragte: „Wie war das Essen?“ Er sagte: „Wundervoller Mensch.“ – „Und was hast du da unterm Arm?“ – „Ich habe ihn nach dem Essen gebeten, ein Foto zu signieren.“ Lang hatte ihm also eine lange Widmung auf ein Bild geschrieben, das ihn in jungen Jahren in Deutschland zeigt. Und Buñuel war stolz darauf wie ein in einen Star vernarrtes Mädchen.
Wie schafft man es als Drehbuchautor, mit so vielen Regisseuren zusammenzuarbeiten, Diener so vieler Herren zu sein?
Louis Malle hat das mal ganz gut beantwortet. Er sagte: Carrière hat kein Ego. Ich habe gelernt, mich anzupassen. Ein Autor muß alles geben, seine Arbeit, sein Talent, seine Nächte und Tage, völlig dem Werk eines anderen hingegeben, der dann als Urheber gilt. Man muß als Autor die Hoffnung aufgeben, berühmt zu werden. Wenn man seine Sichtweise den anderen aufdrängen will, bleibt man nicht lange im Geschäft. Wenn ich einen Film beginne, versuche ich herauszufinden, welchen Film der Regisseur wirklich machen will. Manchmal weiß er es selbst nicht. Also sprechen wir vorher darüber, was er sich vorstellt, warum er das Buch gewählt hat, womit wir anfangen. Es ist wirklich wichtig, im selben Film zu sein. Manchmal klappt das nicht. Drei- oder viermal war ich mit einem Regisseur zusammen, mit dem ich wirklich keine Gemeinsamkeiten fand und wo ich nicht sah, was er will. Das ist mir zum Beispiel mit Marco Ferreri passiert, den ich ansonsten sehr mochte. Nach drei Monaten unter einem Dach hatten wir immer noch keinen Film. Genauso ist es mit Peter Brook auf der Bühne. Schauspieler machen oft den Fehler, daß sie glauben, der Regisseur wisse am Anfang bereits, wie das Ergebnis aussehen soll. Das ist unmöglich. Sie wollen es selbst herausfinden. In der Regel weiß Peter Brook etwa nur, was er nicht will. Dann ist es interessant, sich gemeinsam auf die Suche zu machen.
Gibt es denn bei all den verschiedenen Regisseuren auch Gemeinsamkeiten, was die Arbeit am Drehbuch angeht?
Ja, der Weg ist immer der gleiche. Wir müssen zusammensitzen, müssen reden, manchmal über was ganz anderes, Kindheitserinnerungen etwa, und die Geschichte langsam einkreisen. Und wenn einer eine Idee hat, erzählt er sie dem anderen, indem er sie spielt. Meine Erinnerungen an Buñuel sind die Erinnerungen an einen Schauspieler. Tagsüber mach‘ ich mir Notizen, und nachts versuche ich einen ersten Entwurf der Szenen. Das dauert Wochen und Wochen. Beim DISKRETEN CHARME haben wir in zwei Jahren sechs völlig verschiedene Versionen geschrieben. Erst ist man zwei Monate zusammen, und wenn man dann nicht zufrieden ist, trennt man sich für zwei Monate und kommt dann wieder zusammen. Bis dahin ist dann hoffentlich das passiert, was Buñuel die „unsichtbare Arbeit“ nannte. Daß plötzlich Lösungen auftauchen oder andere Sachen, die wir mochten, sich als untauglich erwiesen haben. Milos Forman ist der, der am meisten spielt. Er schreibt selbst wenig und liebt es, die Figuren zu spielen. Das Seltsame ist, daß alle drei – Forman, Buñuel, Malle – beim Vorspielen immer automatisch die weibliche Hauptrolle gewählt haben. Beim TAGEBUCH EINER KAMMERZOFE war Buñuel die Kammerzofe, und ich habe die Männer gespielt. In BELLE DE JOUR war er Belle de jour. Und Forman war bei VALMONT mit Vorliebe Cecile. Völlig lächerlich, wenn uns jemand gesehen hätte: ein Sechzigjähriger, der den ganzen Tag ein junges Mädchen spielt. Buñuel sagte immer, wenn man eine Szene spielen kann, dann kann man sie auch schreiben.
Gibt es denn Bücher, die Sie mit Buñuel geschrieben haben, die aber unverfilmt geblieben sind?
Jeder Autor hat eine Menge Leichen im Keller. Fünfzehn, zwanzig Bücher habe ich, die in verschiedenen Stadien der Fertigstellung sind, aber aus irgendwelchen Gründen nicht als Film zustande kommen. Es gibt zum Beispiel ein Projekt mit Milos, das alle mögen, aber keiner machen will, obwohl Milos zweifacher Oscargewinner ist. Vielleicht ist das auch ganz gut, daß man sich nie zu sicher fühlen darf. Mit Buñuel habe ich zwei Bücher geschrieben, die nicht gemacht wurden. Eines war DER MÖNCH, bei dem sich die Produzenten zerstritten haben. (Das Buch wurde später von Ado Kyrou verfilmt.) Das andere war eine Huysmans-Adaption, an der wir ein Jahr gearbeitet haben, LA-BAS, die Bunuel dann doch nicht machen wollte. Er behauptete, es sei zu schwierig, aber ich glaube, er hatte Angst, er würde sich wiederholen und das Ganze würde zu buñuelhaft werden. Depardieu sollte die Hauptrolle spielen. Es hat das Buch in seiner Jugend gelesen, als es noch als etwas anrüchig galt. Andere Lieblingsbücher waren „Das obskure Objekt der Begierde“ von Pierre Louys und Octave Mirabeaus „Tagebuch einer Kammerzofe“ – insgesamt ist er seiner Jugendlektüre also ziemlich treu geblieben.
Und wie kam es dann zur Zusammenarbeit bei Buñuels Biographie MEIN LETZTER SEUFZER?
Er war damals schon zu alt, um noch Filme zu machen, also habe ich ihm vorgeschlagen, seine Memoiren zu schreiben. Er wollte aber nicht, weil es ohnehin schon zu viele Autobiographien gebe. Also bin ich nach Mexiko gefahren und habe, um ihn zu überzeugen, selbst ein Kapitel geschrieben. Ich hatte unendlich viele Notizen. Ich habe mal ausgerechnet, daß wir im Laufe der Jahre zweitausendmal zusammengewesen sind, öfter als die meisten Ehepaare. Ich kannte also seinen Tonfall und habe sein spezielles französisches Vokabular verwendet. Es ging in dem Kapitel um Bars, ums Rauchen und Trinken. Das hat ihn dann letztlich überzeugt, das Buch mit mir zusammen zu schreiben.

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