01. Dezember 1994 | Spiegel | Essay | Zukunft des Kinos

Rette sich wer kann

Warum das Kino trotz allem eine Zukunft hat

Das Kino wurde erfunden, und schon hieß es: Das Kino hat keine Zukunft. Der Tonfilm kam auf, und es hieß: Das Kino hat keine Zukunft. Das Fernsehen begann seinen Siegeszug, und es hieß: Das Kino hat keine Zukunft. Videorecorder fanden Verbreitung, und es hieß: Das Kino hat keine Zukunft. Nun sind neue Techniken im Anmarsch, und es heißt: Das Kino hat keine Zukunft.

Das Kino hat also keine Zukunft. Damit wird man sich abfinden müssen. Andererseits hat es ohnehin noch nie viel gegeben, was Zukunft hat. Als die Eisenbahn erfunden wurde, hieß es, der Mensch könne solche Geschwindigkeiten nicht aushalten. Als Galilei die Sonne zum Mittelpunkt ausrief, wurde das als Unfug abgetan. Und als die Schöpfung den Menschen erfand, da gab es sicher auch nicht viele, die auf seine Zukunft gesetzt hätten.
So ist es eben. Der Mensch haßt die Zukunft. Die Gegenwart macht ihm schon genug zu schaffen. Und die Zukunft kann er sich nur vorstellen als Verlängerung dessen, was er bereits kennt. Was er nicht kennt, kann er sich auch nicht vorstellen.

Wenn wir von der Zukunft des Kinos reden, warum nicht davon, daß wir das Kino gar nicht mehr brauchen werden, weil es etwas Neues, Schöneres, Besseres gibt? Eine andere Art von Unterhaltung, eine andere Art von Gedächtnis, eine andere Art von Leben. Wo wir das leben können, was wir jetzt im Kino sehen. Allein, zu zweit, zu mehreren. Eine Droge, an der wir keinen Schaden nehmen. Weder körperlich noch seelisch. Warum reden wir nicht davon? Weil wir uns so viel Freiheit gar nicht vorstellen können. Und weil wir nicht glauben, daß eine neue Welt eine schönere und bessere Welt werden wird.
Dann eben nicht. Wer jammert, das Kino habe keine Zukunft, muß sich jedoch zweierlei fragen. Erstens, was das Kino eigentlich ist und warum das bewahrt werden muß. Und zweitens, was am Kino zu verbessern wäre und warum das trotzdem nicht passieren wird oder soll. Wenn man das beantwortet hat, wird man vielleicht nicht mehr wissen über die Zukunft, aber zumindest über die Gegenwart.

Kino ist…? Mit schönen Frauen schöne Dinge tun, wie Truffaut sagt? Der Welt eine Vorstellung unterschieben, die mit unseren Wünschen übereinstimmt, wie Bazin sagt? Ja – aber zuerst einmal heißt Kino, daß man das Haus verläßt, „sich“ in einen dunklen Saal begibt, die Welt und ihre Möglichkeiten mit anderen Augen sieht und dann darüber redet oder schweigt.

Warum sieht man nicht einfach fern? Weil im Kino das Bild und der Ton besser sind und das Erlebnis gewaltiger ist. Weil man neugierig ist auf die neuen Filme. Und weil man ausgehen möchte. Was wäre, wenn man die neuen Filme auch zu Hause sehen könnte, mit noch besserem Bild und Ton – was beim Zustand der meisten Kinos nicht schwierig wäre? Bleibt das Gemeinschaftserlebnis, das es zu bewahren gälte, das aber auch niemandem abgeht, der „sich“ daheim im Familienkreis einen Film ansieht.

Was die Filmemacher betrifft, so geht es ihnen um die Freiheit, Geschichten zu erzählen und ihre Sicht der Welt zu vermitteln, aber auch um Geld, Ruhm und Ehre. Und es gibt kaum einen, der nicht gern auf die meisten Widerstände, auf die er stößt, verzichten würde.

Orson Welles bemerkte einmal, ein Maler brauche einen Pinsel zur Ausübung seiner Kunst und ein Dichter eine Feder, ein Regisseur hingegen eine Armee. Und Renoir soll gesagt haben, Film werde erst dann eine Kunstform sein, wenn er so verfügbar sei wie Stift und Papier.

Was spräche also dagegen, wenn Filmemacher ihre Filme in Zukunft am Computer produzieren würden? Wenn ihnen per Knopfdruck die ganze Welt als Schauplatz und jeder Mensch als Schauspieler zur Verfügung stünde?

Sehen wir der Wahrheit ins Auge: Das Kino ist, so wie es ist, eine reichlich antiquierte Angelegenheit. Es ist in der Herstellung zu schwerfällig und zu teuer. Das Material ist zu empfindlich, und die Projektion ist zu schlecht. Und warum müssen Filme eigentlich mit 24 Bildern pro Sekunde dahinflimmern, wenn im Showscan-Verfahren heute schon Filme mit 60 Bildern pro Sekunde möglich sind, die viel schärfer aussehen?

Wenn die Zuschauer wählen könnten, würden sie Filme gern sehen, wann immer und wo immer sie wollen, mit perfektem Ton und Bild. Und wenn Filmemacher es „sich“ aussuchen könnten, dann würden sie Filme gern machen, wann immer und wo immer sie wollen, mit unbeschränktem Budget und allen technischen Möglichkeiten. Das wäre die Zukunft, von der eigentlich alle träumen müßten. Tun sie aber nicht. Warum wohl?

Das ist die große Frage. Unzweifelhaft wird diese Zukunft kommen. Wenn Filme vom Computer billiger sind, dann wird es sie auch geben, und wenn Menschen diese Filme zu Hause sehen können, dann werden sie das auch tun. Vielleicht wird ihnen dann etwas fehlen, wahrscheinlich jedoch nicht. Denn sie werden sich auch in diesem Zustand einrichten, und wenn sie sentimental gestimmt sind, werden sie ein bißchen der guten alten Zeit nachweinen.

Wenn alles so kommt, hat diese Freiheit die Form eines Gefängnisses. Alle sitzen in ihren Zellen, die Zuschauer und die Filmemacher, verbunden durch ein gigantisches Netz, dessen Betreiber alles kontrollieren. Die Welt ist vielleicht noch nicht soweit, aber sie unternimmt alle Anstrengungen, um dorthin zu kommen. Man muß nur nach Hollywood blicken, wo sich die Hardware-Produzenten um die Software reißen. Denn wer ein Kabelnetz hat oder Monitore herstellt, braucht natürlich auch etwas, was er dort zeigen kann.

Vilem Flusser nennt diese Vision eine faschistische Gesellschaft, der man nur entgehen könne, wenn es den Zuschauern gelänge, einen Dialog aufrechtzuerhalten. Theoretisch ist das möglich, weil dann jeder seine eigenen Filme machen kann. Aber das wird nichts ändern. Wer etwas zu erzählen hat, wird es tun. Und wer nicht, der wird zuhören. Und wer den Dreh raushat, wie man mit diesem Medium umgehen muß, der wird sich durchsetzen. Aber das werden dann andere Filme sein, die mit dem Kino, wie wir es kennen, nichts mehr zu tun haben.

Und wie werden diese Filme aussehen? Werden sie mit Laser auf den Sehnerv projiziert oder unter einem Helm greifbare Realität?

Wir können es uns zwar nicht vorstellen, aber wir können überlegen, wie das Publikum früherer Zeiten reagiert hätte, wenn man ihnen einen Film von heute vorgeführt hätte. Wenn man den Leuten, die 1895 bei der ersten Filmvorführung vor einem Zug in Deckung gegangen sind, zum Beispiel True Lies vorgeführt hätte: Hätten sie verstanden, was ihnen da erzählt wird? Was hätten sie mit den Flugzeugen und Funkgeräten, Autos und Aufzügen angefangen? Ist es vielleicht so, daß der Film zu viele Kenntnisse voraussetzt, die damals noch nicht verfügbar waren? Und hätte das Kino in ihren Augen eine Zukunft gehabt?

Eines hätten sie vielleicht begriffen – daß auch in Zukunft die Grundlage aller Geschichten lautet: Boy meets girl… Und daran wird sich auch nichts ändern, solange es dem Menschen nicht gelingt, sich selbsttätig zu vermehren.

Das Kino hat also wieder mal keine Zukunft. Gehen wir trotzdem hin. Es mag unvollkommen sein, aber der Mensch ist es auch. Und solange es davon zu erzählen versteht, solange hat es auch Zuschauer. Und wenn man Glück hat, dann trifft man dort die Frau seines Lebens. Noch ist es möglich.

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