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10. Juli 2005 | Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung | Essay | iPod

Wie der iPod unser Leben verändert hat

Früher gab's Platten, Kassetten, CDs. Heute gibt es ein weißes Ding, das alles aufsaugt. Protokoll eines Selbstversuchs.

Vor langer, langer Zeit – kunstgeschichtlich also etwa vor Erfindung der Zentralperspektive – haben Menschen Musik auf tellergroßen schwarzen Scheiben mit einem Loch in der Mitte gespeichert, auf denen eine Rille vom Rand zur Mitte lief, die von einer Nadel abgetastet werden mußte, um die Musik hörbar zu machen. Man nannte das Schallplatte, und das Gerät Plattenspieler, und beides zusammen war so irre empfindlich, daß man eine bestimmte Spreizfingertechnik entwickeln mußte, um die Platte unbeschädigt aus der Hülle zu bekommen und sie dann mit einem behenden Griffwechsel auf dem Dorn zu plazieren – ein Bewegungsablauf, der so etwas wie der Dodo in der Evolution des menschlichen Gestenrepertoires sein wird. Und obwohl man jede Berührung vermied, fingen die Platten nach einiger Zeit unweigerlich zu knistern und knacksen an.

Es war natürlich trotzdem wunderbar, aber es ging den Weg der Telefone mit Wählscheiben. Und wir wollen mal darüber hinwegsehen, daß Schallplatten noch eine Nischenexistenz bei DJs führen – und in den hinteren Reihen meiner Regale, nostalgischer Bodensatz, der seit Jahren vergeblich auf die Reparatur meines Plattenspielers wartet. Da ist es noch wahrscheinlicher, daß ich sie wie der Held in dem lustigen Zombie-Film SHAUN OF THE DEAD als tödliche Frisbees verwende, um heranwankenden Untoten die Rübe abzusäbeln. Prince? Bloß nicht! Dire Straits? Wirf schon!

Man muß sich das mal vorstellen: Menschen kauften sich Schallplatten, setzten sich auf einen Sessel oder legten sich aufs Bett und starrten stundenlang aufs Plattencover, küßten es, falls der Künstler darauf abgebildet war, oder rätselten über dessen Bedeutung, falls es abstrakterer Natur war. Kein Wunder, daß eine ganze Menge nach einiger Zeit felsenfest davon überzeugt war, das Cover von „Sergeant Pepper“ enthalte hieb- und stichfeste Hinweise auf den Tod von John Lennon. Wenn man nur Platten von den Bay City Rollers hatte, gingen die Gedanken allerdings nicht ganz so sehr in die Tiefe.

Dieses Rumgehänge vor dem Plattenspieler war natürlich auf Dauer kein Zustand – etwas Neues mußte her, und es kam in Form der Musikkassette. Man mußte keine Platten mehr kaufen, konnte Musik aus dem Radio aufnehmen und sie nach eigenen Bedürfnissen zusammenstellen. So entstand die Kunstform des Mix Tapes. Nick Hornby hat in „High Fidelity“ darüber geschrieben: „Ich verbrachte Stunden damit, die Kassette zusammenzustellen. Ein Tape zu machen ist für mich, wie einen Brief zu schreiben…ein hartes Stück Arbeit…es gibt da jede Menge Regeln.“ Man kann weiße Musik nicht mit schwarzer kombinieren, nicht zwei Nummern desselben Künstlers hintereinander bringen, muß immer ein Auge auf Rhythmus und Stimmung haben. Und jedesmal paßte das letzte Stück nicht mehr auf die Kassette. Zurückspulen, ein neues ausprobieren, mit bangem Blick aufs Bandzählwerk. Und wir wärmen uns an der romantischen Vorstellung, daß es tatsächlich jemals gelungen sei, irgend jemandes Herz mit einer dieser Zusammenstellungen zu gewinnen.

Es kam die CD, ein schamloser, aber erfolgreicher Versuch der Industrie, den Leuten für dasselbe Angebot das doppelte Geld aus der Tasche zu ziehen. Man tauschte Qualität gegen die relative Unempfindlichkeit des neuen Mediums, und wer’s nicht glaubt, sollte sich nur mal anhören, wie leblos klassische Musik auf CD klingt. Wo früher in den knisternden Pausen ein Raum spürbar wurde, herrschte nun die Körperlosigkeit des digitalen Schweigens. Auch die sogenannten Booklets konnten trotz ihrer viel ausführlicheren Informationen nicht wirklich fürs tendenziell kalte Medium erwärmen. Denn Plattenhüllen waren Traumfänger, CD-Cover ähneln jedoch eher Gebrauchsanweisungen. Und so ist es nur gerecht, daß die CD langsam, aber sicher zum Verschwinden verurteilt ist und bald ein so antiquiertes Medium wie die Schallplatte sein wird.

Schuld daran ist der iPod. Fairerweise muß man vielleicht sagen, daß auch andere Fabrikate das Ihre dazu tun, und korrekterweise sollte man ohnehin festhalten, daß der entscheidende Schritt die Verwandlung der Stücke in Dateien war, die Komprimierung der Musik in ein handliches Format, das sich mp3 nennt. Es gibt auch andere Formate, WMA hier, AAC dort, aber das muß man einfachheitshalber genauso vernachlässigen wie den nicht zu unterschätzenden Einfluß von illegalen Tauschbörsen wie Napster, Kazaa, eMule und anderen auf die rasende Verbreitung und Durchsetzung dieser Formate. iPod also – anderes geht wahrscheinlich genauso, sieht aber nicht so gut aus.

Am Anfang war klar: Hätte man gerne, würde man sich aber nie kaufen, reiner Luxus, bloße Spielerei, viel zu teuer. Die glückliche Lösung: Man bekommt einen iPod geschenkt. Seither steht fest: Das Ding ist sein Geld wert. Denn es bringt Musik ins Leben, wo vorher keine war. Das kleinste Modell hat fünf Gigabyte Speicherplatz auf der Festplatte, das sind über tausend Songs in annehmbarer Qualität, etwa hundert Platten, über drei Tage nonstop Musik. Das klingt nach viel und ist doch nie genug. Wer das Ding schon seit ein paar Jahren hat, könnte heulen. Heute gibt es für dasselbe Geld eine vielfache Menge an Speicherplatz. Denn man wird schnell wählerisch, überspielt nur die wichtigsten Platten und vom Rest das Beste. Wenn das Herz groß genug ist, hat man also schnell hundert Platten oder tausend Songs beisammen, die vielleicht nicht alle Lieblingsstücke sind, aber es doch irgendwann mal waren.

Man könnte sagen, daß der iPod eigentlich nicht viel anderes bietet als der gute alte Walkman, wenn man davon absieht, daß er mehr Musik auf weniger Platz unterbringt. Aber Walk- und Discman waren immer nur etwas für jene Leute, die mit derselben Entschlossenheit Musik hören, wie sie im Wald joggen gehen. Das Problem mit Musik ganz allgemein ist jedoch, daß man mitunter zwar gerne etwas hören würde, aber nicht immer die Entscheidungskraft aufbringt, sich auf eine bestimmte CD, Gruppe oder auch nur Richtung festzulegen. Man steht vor dem Regal und kann sich nicht recht entscheiden, welcher Stimmung man eigentlich gerade ist oder welches der passende Soundtrack zur momentanen Gemütslage wäre. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum viele Leute Radio hören: Weil es sie von der Frage entbindet, was sie auflegen sollen. Der iPod stößt in diese Lücke des musikalischen Leerlaufs. Man stellt ihn an, und der Zufallsgenerator wählt irgendeinen Song, von dem man nur so viel sicher weiß: daß man ihn irgendwann mal gut genug fand, um ihn auf den iPod zu überspielen. Und regelmäßig ist man überrascht: Man wäre selbst nie auf den Song gekommen, hätte sich gegebenenfalls womöglich sogar dagegen entschieden, aber in dem Moment, wo er erklingt, kommt die Erinnerung zurück. Funktioniert nicht immer, aber erstaunlich häufig. So muß man sich den iPod vorstellen: ein Radiosender, der ausschließlich Stücke spielt, die man gut findet. Und wie im Radio gibt es beim iPod eben jenes Glück, daß wie aus heiterem Himmel ein Musikstück erklingt, das man selbst nicht besser hätte wählen können. Der Zufall ist manchmal der beste Discjockey.

Die Tatsache, daß der iPod nur über den Computer bespielt werden kann, macht die CD zur irgendwie lästigen Zwischenstufe. Man muß die gekaufte Scheibe erst ins Laufwerk des Computers einlegen, sie dann in mp3-Dateien umwandeln, was je nach Prozessor bis zu einer Viertelstunde dauert, ehe man sie auf den iPod ziehen kann. Dann wandert die CD auf Nimmerwiedersehen ins Regal, vor allem, seit man den iPod auch an die Anlage anschließen kann. Schon deshalb ist dem MusicStore von Apple, wo man mit einem Klick einzelne Stücke für 99 Cent herunterladen kann, auf Dauer Erfolg beschieden, weil das Herunterladen von Stücken im richtigen Format schneller geht und außerdem erspart, all jene Stücke mitkaufen zu müssen, an denen man womöglich gar nicht so interessiert ist. Wenn sich dieses Geschäftsmodell durchsetzt, wird es das vollständige Album als eigene Kunstform auf Dauer schwer haben. Natürlich kann man auch ganze Alben von vorne bis hinten auf den iPod überspielen und auch in der vorgesehenen Reihenfolge anhören, aber über kurz oder lang ist die Vorstellung, ein Album könne mehr sein als nur ein Angebot, sich bestenfalls ein paar Songs runterzuladen, völlig überholt.

Andererseits kommt mit dem iPod mal wieder Bewegung in die Plattensammlung, wo die überwiegende Mehrheit der CDs wie eingefrorene Konten im Regal liegen. Plötzlich hört man wieder alte Platten, um zu überprüfen, welche Stücke man auf den iPod übernehmen könnte. Wenn das geschehen ist, hat man allerdings den Eindruck, man könne die Platte eigentlich genausogut verkaufen. Wie ein Staubsauger geht man mit dem iPod über die Sammlung und saugt auf, was die Zeit überdauert hat, der Rest wird überflüssig. Am Ende hat man so viel Zeit in die Sichtung und ins Überspielen investiert und der iPod ist so voll mit nur den allerliebsten Erinnerungen, daß man einen Verlust oder Diebstahl mindestens so fürchtet wie bei Adreßbuch oder Terminkalender. Wer klug ist, überspielt deshalb den Inhalt seines iPod sicherheitshalber auf den Computer. Das ist zwar vom Hersteller nicht vorgesehen, um die Musikpiraterie zu unterbinden, aber es gibt im Netz kleine Zusatzprogramme, mit denen man diese Sperre umgehen kann. Wäre ja noch schöner, wenn man keine Sicherheitskopie anlegen könnte.

Das ist also die Gegenwart. Platten schwirren noch irgendwo herum, Musikkassetten verrotten in Schubladen, CDs kämpfen ihr letztes Gefecht, Apple und Microsoft kämpfen den Krieg der Formate, die Musikindustrie bekämpft illegale Tauschbörsen, die sogenannten P2P-Netzwerke, in denen die Stücke anonym unter der Hand vervielfältigt werden, das Qualitätsbewußtsein wird bei 128 Bits pro Minute immer geringer, und mittlerweile laden viele ihre Songs gleich aufs Handy, das als Multifunktionsgerät ohnehin bald alles andere ersetzen wird. Und der iPod hat mittlerweile ein farbiges Display, kann Fotosammlungen speichern und Radiosender abspielen. Dann kann man bald auch die Cover anzeigen oder gleich Videoclips, und irgendwann in naher Zukunft wird jeder Ton, der je irgendwo als Musik gespielt wurde, auf einen kleinen Speicherchip passen, zusammen mit allen Filmen, die je gedreht wurden, allen Büchern, die je geschrieben wurden, und allen Bildern, die je gemalt wurden. Und dann wird uns die ganze Welt buchstäblich um die Ohren fliegen. So gesehen ist der iPod auch nur die gelbe Telefonzelle von morgen.

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