Der Standort der Dinge
Warum sehen im deutschen Kino eigentlich alle Städte gleich aus?
Das können die Amerikaner: Wenn ein Film in Paris spielen soll, dann sieht man erstmal den Eiffelturm. Wenn es um London geht, zeigt man Big Ben. Und wenn der Schauplatz ein namenloses Kaff sein soll, dann genügt ein weißer Kirchturm oder eine menschenleere Hauptstraße. Das nennt man establishing shot, und es ist vielleicht eine etwas schlichte, aber doch enorm wirkungsvolle Herangehensweise ans Geschichtenerzählen. Man weiß gleich, wo etwas spielt und was man sich darunter vorzustellen hat.
Wie ist das, wenn das deutsche Kino erzählt? „Aimée & Jaguar” spielt in Berlin und wurde in Köln gedreht; „23” spielt in Hannover und wurde in München gedreht; und es gibt auch einige Filme, die dort gedreht wurden, wo sie spielen. Darum geht es auch gar nicht: Man kann die Filme drehen, wo man will, solange man nur sieht, wo sie spielen sollen. Das Problem ist eher, daß sich im Kino der Standort Deutschland kaum je einprägt. Oder kann sich jemand an Orte erinnern, die sich ernsthaft mit einem Film verbinden, deren Ausstrahlung vielleicht sogar bündelt, was der Film sonst so erzählt? Die Hamburger Köhlbrand-Brücke, auf der in „Bandits” der Showdown stattfindet; die Karwendel-Seilbahn, auf der es in „Die Sieger” zur Sache ging; die Berliner S-Bahn, unter der Lola durchrennt – das sind immerhin Anblicke, in die sich die Erinnerung an die Filme einbetten läßt.
Es ist ja womöglich kein Zufall, daß der weltweit angesehenste deutsche Regisseur derjenige ist, dessen Filme sich sofort mit ihren Schauplätzen identifizieren lassen. Wer an Wim Wenders denkt, dem fallen sofort die Wuppertaler Schwebebahn zu „Alice in den Städten” oder die Brandmauern gegenüber der Kongreßhalle und die Engel auf der Friedenssäule im „Himmel über Berlin” ein – nicht zu reden von seinen amerikanischen Schauplätzen oder dem ausgestorbenen portugiesischen Hotel im „Stand der Dinge”. Man kann über Wenders sagen, was man will – diesen einmaligen Blick auf Städte und Landschaften kann ihm keiner absprechen. Und er mußte nicht wie Werner Herzog ans Ende der Welt gehen, um seine Bilder zu finden – obwohl er das auch getan hat –, es reichte auch die nächste Nachbarschaft.
Das Interesse, was Orte erzählen können, war bei Wenders von Anfang an vorhanden. Sein erster Kurzfilm hieß „Schauplätze”, sein zweiter „Silver City”, und da sieht man acht Mal drei Minuten lange Einstellungen von einer Straßenkreuzung, erst früh am Morgen, wenn sie leer ist und nur die Ampel immer wieder von grün auf rot schaltet, dann abends, wenn der Verkehr fließt – sonst nichts. Und auch wenn im Profiwahn heutiger Studentenkurzfilme so eine Erzählweise hoffnungslos überholt erscheinen mag, so zeugt sie doch von einem Respekt für das, was man sehen kann, wenn man die Augen aufhält.
Wim Wenders hat es mal auf den Punkt gebracht: „Eine Straße oder eine Häuserfront oder ein Berg oder eine Brücke oder ein Fluß sind mehr als ein Hintergrund. Auch sie besitzen eine Geschichte, eine Persönlichkeit, eine Identität, die es ernstzunehmen gilt. Sie beeinflussen die menschlichen Charaktere, die vor diesem Hintergrund leben, sie rufen eine Stimmung hervor, ein Gefühl für Zeit, eine bestimmte Emotion. ”
Wenders ist vielleicht einzigartig, was diesen Aspekt des Kinos angeht, aber er war damals nicht allein. Rudolf Thome machte mit „Rote Sonne” einen Film, dem man ansieht, daß er in München spielt; und Fassbinder verwendete in „Liebe ist kälter als der Tod” eine Einstellung, in der die Landsberger Straße in voller Länge abgefilmt wurde. Darin findet sich jene Lust, die am Anfang allen Erzählens stand: „Ich habe etwas gesehen, und ich möchte davon erzählen. ”
Daß gerade diese Generation, die von Amerika als dem „Land des befreiten Sehens” träumte, auch in unserem Land Bilder fand, läßt vermuten, daß die jetzige Generation gar nicht mehr glaubt, daß es überhaupt noch etwas zu sehen gäbe. Vielleicht muß sie ja nur mal die Augen aufmachen.
Unlängst war ein Artikel in dem Branchenblatt Cinechart überschrieben „Locations müssen sexy sein”, und er handelte davon, daß zunehmend Location-Agenturen und ihre Scouts mit der Suche nach geeigneten Drehorten befaßt werden. Das sind immerhin Leute, die wissen, was sie tun, und die ihre Motive ernst nehmen. Und wenn sexy bedeutet, daß ein Ort eine bestimmte Anziehungskraft ausübt, dann beschreibt das ja auch, um was es geht. Wenn der Schauplatz dann aber wieder nur eine Kulisse ist, die beliebig ausgetauscht werden könnte, weil die Figuren keinen Bezug dazu haben, dann wäre das auch ein Mißverständnis.
Es muß ja nicht gleich jeder Film an so exponierter Stelle spielen wie Hitchcocks „Unsichtbarer Dritter”, wo die Liebenden am Mount Rushmore hängen, aber etwas mehr Sinn für die Unverwechselbarkeit unserer Städte und Landschaften stünde dem deutschen Kino gut zu Gesicht. Und es ist auch nicht unfair, wenn man nochmal einen der ganz Großen herbeizitiert, Michelangelo Antonioni zum Beispiel, weil ja sein stark topographisch geprägter Blick seinen Ruhm auch begründet hat. Man muß sich nur mal ansehen, wie er in „Beruf: Reporter” München oder Barcelona zeigt; oder wie er in „L’eclisse” die Börse oder das Viertel EUR verwendet; oder wie er in „Blow-up” den kleinen Londoner Park benutzt – darin zeigt sich niemals nur ein touristischer Blick, sondern ein Auge für das, was den Charakter von Städten und Landschaften ausmacht, und dafür, wie sich seine Figuren darin bewegen. Von der Nouvelle Vague und ihren Anfängen in Paris wollen wir gar nicht reden. Das Sehenswürdige muß ja nicht immer gleich eine Sehenswürdigkeit sein. Zumal das Antlitz der Städte genauso viele Geheimnisse birgt wie das Gesicht eines Menschen.
Gerade heute, da sich das deutsche Kino so arg um das große Publikum und Allgemeinverständlichkeit bemüht, fragt man sich, warum die Schauplätze immer noch so austauschbar sind. Fast wirkt es so, als würde man sich immer noch des eigenen Landes genieren; als würden dieselben Leute, die bei jedem Anflug auf eine amerikanische Stadt im Kino die Augen aufreißen, ähnlich majestätische Einstellungen von deutschen Städten um jeden Preis meiden. Und es soll keiner behaupten, es läge am Geld. Wer dafür keins übrig hat, kann sich die anderen Ausgaben auch gleich sparen.
MICHAEL ALTHEN