10. Oktober 1998 | Süddeutsche Zeitung | Essay, Leben | Baseball

Homerische Geschichten

Jenseits der Unterwelt: Warum Baseball mehr als nur ein Spiel ist

Amerikaner mögen es kurz und bündig. Wenn ein Wort mehr als fünf Buchstaben hat, dann erfinden sie eine Abkürzung. So wurde aus dem home run der homer. Wobei auf den Gleichklang mit dem Namen des alten Griechen gerne Bezug genommen wird. In der Verfilmung von Bernard Malamuds Baseball-Roman DER UNBEUGSAME heißt es: „Wenn Homer heute leben würde, hätte er über Baseball geschrieben. ”

Tatsächlich geht es ja beim Baseball wie in der Odyssee darum, wie einer nach langer Rundreise wieder zuhause ankommt. Ohne allzu sehr ins Detail zu gehen, kann man sagen, daß es beim Baseball darauf ankommt, den Ball mit dem Schläger möglichst so weit wegzudreschen, daß man genügend Zeit hat, von einer Base zur nächsten zu rennen, ehe die gegnerische Mannschaft den Ball abgefangen und zurückbefördert hat. Das Ziel ist die vierte, die sogenannte home base. Jeder Mann, den man auf diese Weise nach Hause holt, bringt einen Punkt. Wobei der home run einen Schlag bezeichnet, bei dem der Ball über die Spielfeldbegrenzungen hinaus geprügelt wird. Das muß man verstehen, wenn man begreifen will, warum in dieser Saison in Amerika immer wieder von einem „homerischen Epos” die Rede war.

Das hatte auch einen guten Grund: Vier Rekorde wurden aufgestellt, und der aufsehenerregendste war der neue Schlag-Rekord von Mark McGwire, der für die St. Louis Cardinals 70 home runs in einer Saison geschlagen hat. 37 Jahre lang hatte Roger Maris mit 61 home runs den Rekord gehalten, und McGwires Jagd auf diese Marke hat Amerika den Sommer über in Atem gehalten. Im Christian Science Monitor wurde McGwire deswegen in den Olymp gehoben, weil der Autor auf einer Griechenland-Reise erlebt hat, wie die amerikanischen Touristen inmitten der Statuen von Zeus und Apollo immer wieder fragten, ob McGwire dem Rekord wieder einen home run näher gekommen sei. Der Schluß lautete: „McGwire is right up there with Zeus. ”

Dieser Kurzschluß zwischen Helden und Göttern führt vielleicht nicht besonders weit, aber er verdeutlicht, wie tief die Heldenverehrung in der amerikanischen Seele verankert ist. Und Baseball ist der Sport, auf den diese Sehnsüchte wie nirgends sonst projiziert werden. Das liegt zum einen daran, daß sich Baseball wie kein anderes Spiel in Zahlen, Daten, Fakten auflösen läßt. Scott Stossel schrieb darüber gerade im Atlantic Monthly: „Kein Zweifel, daß die Anziehungskraft in einer Art heiliger Numerologie besteht. Baseball ist entstellt worden durch die Überbetonung der Statistiken, durch die Fetischisierung von Zahlen. Die Fans sind davon so besessen, daß sie das Drama des Mannschaftssports aus den Augen verloren haben. Es geht nur noch um den Einzelnen. ”

Bei so viel Zahlenmystik ist es vielleicht kein Zufall, daß in diesem Jahr gleich drei Bücher aus Amerika erschienen sind, in denen Baseball eine zentrale Rolle spielt: „Unterwelt” von Don DeLillo, „Von der Hand in den Mund” von Paul Auster und „Amerikanisches Idyll” von Philip Roth. Bei uns wäre es undenkbar, daß sich ernsthafte Autoren auf ähnliche Weise mit Fußball beschäftigen – allenfalls Engländer wie Nick Hornby oder David Thomson wagen sich daran. Das liegt womöglich daran, daß Fußball nicht annähernd so gut als Methaper taugt. Mit dem Fußball lassen sich allenfalls bestimmte Tugenden in Verbindung bringen – im Baseball hingegen spiegeln die besonderen Strukturen des Spiels auch die mythischen Konstellationen amerikanischer Erzählung: das Duell Werfer gegen Schlagmann; der befreiende Schlag über die Begrenzungen hinaus; die Kraft der individuellen Tat; die Heimkehr des Siegers zur home base. Und was noch wichtiger ist: die mit der Sportart in Verbindung gebrachte Reinheit und Unschuld, die immer wieder durch Korruption und Streik in Gefahr war, sich als Image aber gehalten hat.

Am besten versteht man das vielleicht, wenn man liest, wie Paul Auster den Besuch eines Stadions beschrieben hat: „Das jähe Gefühl von Weite ist so mächtig, daß man in den ersten Sekunden gar nicht weiß, wo man sich befindet. Alles ist plötzlich so riesenhaft, so grün, so perfekt geordnet . . . In den nächsten zwei bis drei Stunden nimmt einen die Geometrie des Spielfelds vollständig gefangen. Man ist mitten in der Stadt und zugleich in einem idyllischen Universum, in dem der Flug eines weißen Balls das Handeln von achtzehn erwachsenen Männern bestimmt. ”

Es hat schon seinen Grund, warum Walt Whitman sagte, Baseball sei wie das Land selbst, ein durch und durch amerikanischer Sport. Die Visionen von Reinheit, Übersichtlichkeit und Perfektion bündeln sich in jenem Viereck, das die Bases bilden und das diamond genannt wird. In dieser geometrischen Makellosigkeit des Spielfeldes wird die Welt auf ein perfektes Regelwerk reduziert. Und so ist jener Moment zu verstehen, wenn der Ball vom pitcher, dem Werfer, auf den batter, den Schlagmann, zufliegt: Wer in Sekundenbruchteilen die richtige Entscheidung trifft, wird dieser Perfektion gerecht – der Rest ist Versagen.

Es gibt eine Geschichte, in der sich wie nirgends sonst die kindliche Sehnsucht nach dieser Unschuld wiederfindet: 1919 hatten sich acht Spieler der Chicago White Sox bestechen lassen und als klare Favoriten das Endspiel gegen die Cincinnati Reds verloren. Es kam zum Prozeß, bei dem die Spieler auf Lebenszeit gesperrt wurden. Als der Star unter ihnen, das Genie Shoeless Joe Jackson, aus dem Gericht kam, drängte sich ein kleiner Junge durch die Reportermeute nach vorne und flehte: „Sag, daß es nicht wahr ist, Joe, bitte sag, daß es nicht stimmt. ” Joe zögerte, dann drehte er sich wortlos um und ging mit Tränen in den Augen fort. Das ist Amerika bis heute geblieben: ein kleiner Junge, der mit großen Augen fleht: „Say, it ain’t so, Joe. ”
Diese kindliche Erfahrung von Vollkommenheit und Unschuld ist es, zu der auch die Autoren immer wieder zurückkehren. Und DeLillos Kunststück in „Unterwelt” besteht gerade darin, den acht Seiten währenden Flug des Balls beim legendären home run von Bobby Thomson im Jahr 1951 nicht nur mit Nostalgie aufzuladen, sondern darin wie in einer Zeitmaschine eine Ära und letztlich das ganze Jahrhundert Revue passieren zu lassen. Da wird endgültig klar, warum Baseball mehr als nur ein Spiel ist.

Reaktionen:

Legendärer Rekord im Baseball

Leserbrief zu "Homerische Geschichten" von Michael Althen in der SZ vom 10./11. Oktober

Mit viel Freude und ebenso Interesse habe ich den lesenswerten Bericht von Michael Althen gelesen. Es gelingt dem Autor, die Schönheit und Spannung des Baseball-Spiels gut verständlich zu beschreiben. Wer schon einmal mit deutschen Jugendlichen versucht hat, Baseball zu spielen, weiß, welche Leistung es ist, die Regeln des Spiels und die Hauptbegriffe ins Deutsche zu übersetzen. Es gelingt Herrn Althen auch, den „Spirit of the summer” der diesjährigen Baseball-Saison einzufangen, mit dem einzigartigen Höhepunkt der sportlichen Auseinandersetzungen der beiden spielenden Hauptdarsteller.
Leider unterschlägt uns Herr Althen den zweiten Hauptakteur des diesjährigen „Homerischen Sommers”: Sammy Sosa von den Chicago Cubs, welcher am Ende der Spielzeit auf 66 Home Runs hinter Mark McGwire kam. Seine ebenso bravouröse und nicht weniger von Baseball-Fans und Medien landesweit anerkannte und bejubelte Leistung gehört untrennbar zu dieser an Höhepunkten so reichen Baseball-Saison. Mehr noch aber ist hervorzuheben, in welcher sportlich und menschlich beeindruckenden Weise beide Spieler (Sosa und McGwire) mit Respekt, Anerkennung und in gegenseitiger Fairneß die Leistung des jeweils anderen Spielers mit jedem neuen Home Run gewürdigt und applaudiert haben. Das wurde am deutlichsten und bewegendsten, als McGwire die legendäre Marke von 61 Home Runs in einer Saison am 8. September 1998 übertraf. Die Umarmung beider Spieler, die gegenseitige Freude zeigten „the game of baseball and two players who play the game at their very best”, wie es ein Reporter auf den Punkt brachte.

MICHAEL BASTIAN

Süddeutsche Zeitung, 17. 10. 1998

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