03. September 2003 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Bericht, Venedig | Venedig 2003 (4)

60. Filmfestspiele von Venedig

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Festivalfilmpaßbilder: Oliveira, Winterbottom, Coppola, Scott

VENEDIG, 2. September
Auch wenn amerikanische Touristen eine gewisse Ähnlichkeit mit Las Vegas konstatieren könnten, ist Venedig doch in Wahrheit very old Europe und schon deswegen der rechte Ort, um einen Film von Manoel de Oliveira aufzuführen. Der ist mit seinen 95 Jahren selbst ziemlich old Europe, war auch schon in den Zwanzigern als Leichtathlet tätig, ehe er beschloß, den Rekord für den ältesten tätigen Spielfilmregisseur in immer neue Höhen zu schrauben. Nun also UM FILM FALADO, ein sprechender Film, und das ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn mehr falado war nie. Eine portugiesische Geschichtsprofessorin (Leonor Silveira) besteigt mit ihrer kleinen Tochter in Lissabon ein Schiff, um zu ihrem Mann nach Bombay zu fahren. Sie machen Station in Marseille, Pompeji, Athen, Istanbul und Ägypten; die Professorin erklärt, die Tochter fragt, die Kamera steht still und unternimmt nichts, um die Erzählungen in irgendeiner Weise zu akzentuieren. Dann stehen sie wieder an der Reling, sehen neuen Passagieren beim Zusteigen zu, die Zurückgebliebenen winken, der Schiffsbug pflügt durchs Meer, und alles geht wieder von vorne los, falado, falado.

Nach dem Geschichtsunterricht sitzt man am Tisch des Kapitäns (John Malkovich), im Kreise von Cathérine Deneuve, Irene Papas und Stefania Sandrelli, die in ihren jeweiligen Sprachen parlieren und damit ganz gut zurechtkommen – man versteht sich eben in old Europe. Schließlich kapern Terroristen das Schiff und jagen es in die Luft, action statt falado, das Ende ein Schock, der Film ein Fanal. Das Mittelmeer, die Wiege des Abendlandes, der Einbruch der Gegenwart, eine bestechende Idee, abenteuerlich hölzern ausgeführt und allen Ernstes als Festivalfavorit gehandelt.

Wenn Europa noch nie so alt aussah wie bei Oliveira, dann kann man sagen, daß Asien selten so modern wirkte wie in Michael Winterbottoms Zukunftsvision CODE 46. Dem unglaublich vielseitigen Briten, der gerade noch mit IN THIS WORLD den Goldenen Bären gewonnen hat, gelingt jene Art von Science-fiction, die aus der Zukunft keine Wissenschaft macht, sondern einfach die Gegenwart in einem neuen, aufregenden Licht zeigt. Winterbottom hat in Schanghai und Dubai gedreht und deren Architekturen zu einer futuristischen Metropole zusammengeschnitten, die von Wüste umgeben ist, so wie er das Englisch als Verkehrssprache mit internationalen Wortbrocken zu einem plausiblen Sprachmix verquirlt hat. Die Klimakatastrophe hat stattgefunden, die Welt ist versteppt, und die Städte sind Sicherheitszonen, die von der Sphinx Corporation kontrolliert werden. Identität, Biographie, Vermögen, alles ist auf Pässen verzeichnet; wer keinen hat, lebt vor den Toren in Lagern.

Die Idee, sagt Winterbottom, sei ihm bei den Dreharbeiten zu seinem Flüchtlingsdrama IN THIS WORLD gekommen. Tatsächlich ergeben die beiden Filme zusammen ein großartiges Double Feature – hier die albtraumhafte Realität, dort der sehr realistische Albtraum einer Zukunft, die schon begonnen hat. Tim Robbins spielt einen Detektiv, der eine undichte Stelle in der Paßdruckerei finden muß. Er hat bald eine junge Frau (Samantha Morton) im Verdacht, die er aber deckt, weil er sich zu ihr hingezogen fühlt. Tatsächlich hat sie denselben genetischen Code wie seine Mutter, und so schleicht sich in diese geklonte Zukunft ohne viel falado ein Stück griechischer Mythologie. Die atemberaubenden Bilder von Alwin Kuchler und die tolle Musik von David Holmes machen aus CODE 46 mit wesentlich bescheideneren Mitteln eine viel überzeugendere Zukunftsvision als MINORITY REPORT. Winterbottom hätte es jedenfalls verdient, auch hier in Venedig zu gewinnen.

Von Ridley Scott, einem ähnlich produktiven Briten, war außer Konkurrenz MATCHSTICK MEN zu sehen, eine Trickbetrügergeschichte mit Nicholas Cage, Sam Rockwell und Alison Lohman, die sich dauernd selbst ein Bein stellt. Scott zeigt wieder mal, was er alles kann, aber diesmal will er einfach zu clever sein. Sofia Coppola ist als Filmemacherin nicht halb so versiert, aber in LOST IN TRANSLATION beweist sie, daß ihr stimmungsvoller Erstling THE VIRGIN SUICIDES kein Zufall war. Ihr Tokio ist von ähnlicher Fremdheit wie Winterbottoms Schanghai. Dort verlieren und verlieben sich ein gealterter Filmstar (Bill Murray), der einen Whiskey-Spot drehen muß, und eine junge Ehefrau (Scarlett Johansson), deren Mann als Fotograf unterwegs ist. Coppola zeigt Einsamkeit und zarte Verständigung, ohne gleich eine große Affäre daraus zu machen. Zwei Menschen, die sich finden, die sich brauchen, aber nicht um jeden Preis. Vor allem ist der Film stets dann zum Brüllen komisch, wenn Bill Murray sein bekannt verständnisloses Gesicht aufsetzt. Und weil Sofia Coppola begriffen hat, daß gerade im Zwischenmenschlichen vieles lost in translation ist, kommt sie ohne viel falado aus.

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