55. Mostra in Venedig
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Filme aus Italien und Frankreich
Die Lokalpresse berichtet, daß Spielberg bei der Eröffnungspräsentation persönlich in die Vorführerkabine gegangen sei, um den Ton zu regeln. Von 7,0 auf 7,2 habe er hochgedreht. Man kann daraus ermessen, wie groß hier der Bedarf an Geschichten ist: Dies ist eine Nachricht, die 0,2 Punkte auf der nach oben offenen Skala an Berichtenswertem mißt.
Nur unwesentlich mehr Punkte hat der Auftritt von Gabriele Paolini, der sich Prophet des Kondoms nennt. Als er Spielberg und Tom Hanks ein Kondom zukommen lassen wollte, ließ der Mostra-Chef Laudadio ihn rauswerfen.
Als Spielberg gefragt wurde, ob er etwas übers italienische Kino sagen könne, betonte er, was für eine große Rolle es in seinem Leben gespielt habe. Zur Zeit von „Duel” habe er Fellini kennenlernen dürfen, und bei „Zabriskie Point” sei er auf Antonioni getroffen. Diese Aussage macht den Italienern natürlich Freude, verweist aber auch darauf, daß das italienische Kino seit diesen Zeiten als Exportartikel auch nicht mehr viel gebracht hat. Was womöglich nicht nur an Italiens Filmen liegt, sondern auch an einer Welt, die mit den Tugenden Fellinis oder Antonionis nicht mehr viel anfangen könnte.
Das italienische Kino müht sich, Anschluß an jene Zeiten zu finden, und gibt sich so modern wie möglich. Francesca Archibugi etwa baut in „L’albero delle pere” ohne ersichtlichen Grund das Internet und jede Menge Handys ein, um ihre depressive Geschichte auf Zack zu bringen. Ein junger Bursche muß sich da um seine kleine Schwester kümmern, weil die Eltern dazu nicht in der Lage sind. Wie der Junge mit Problemen zu kämpfen hat, die sonst alleinerziehenden Eltern vorbehalten sind, wird mit Charme erzählt, aber an den Rändern franst der Film zu sehr aus. Denn gleichzeitig soll verhandelt werden, wie eine Generation mit dem Bankrott ihrer Träume von einst fertig wird, und das gelingt Archibugi allenfalls schablonenhaft: Sie setzt allein auf die Kraft der Kindheit, die sich ihre eigene Welt zusammenphantasieren kann – das ist als Methode etwas billig.
Claude Lelouch war noch nie ein Effekt zu leicht zu haben. Im französischen Kino spielt er den billigen Jakob, der die Gefühle gleich im Dutzend an den Mann bringt. Diese Schamlosigkeit besitzt, wenn es gut läuft, auch eine eigentümliche Kraft. Schwer erträglich ist nur die onkelhafte Geste, mit der er über sein Welttheater regiert, in dem alles immer auf die Lieblingsfloskel der Bourgeoisie hinausläuft: Wie das Leben so spielt.
Sein neuer Film heißt „Hasards ou conincidences”; und wie üblich spielt sich Lelouch zum strengen, aber gerechten Lenker des Geschicks auf. Aber gerade diese Unverschämtheit, mit der er auf seinem weltumspannenden Blick beharrt, muß man manchmal fast bewundern. „Hasards” spielt bei den Eisbären in Kanada, den Derwischen in der Türkei, den Klippenspringern in Acapulco, den Marmorhauern in Carrara; Venedig kommt vor, New York und das Meer; und alles wird zusammengemischt zu einer Story um Zufall und Notwendigkeit, Bild und Wirklichkeit, in welcher der Tod nur durch die Liebe überwunden werden kann. Eine ehemalige Primadonna filmt mit der Videokamera die Traumziele ihres bei einem Bootsunfall ums Leben gekommenen Geliebten und Sohnes; und ein kanadischer Philosoph findet die Kamera, verliebt sich in die Frau und folgt ihr um die Welt. Das Ganze will ein Spiel sein, nimmt sich aber ernster als nötig. Und es sieht aus, als habe Lelouch den Zeitschriftenständer im Wartezimmer eines Frauenarztes – oder das Lufthansa Bord Magazin – verfilmt. Wenn man alle Filme dieses Festivals überblenden könnte, käme wahrscheinlich „Hasards et coincidences” heraus, ein Reader’s Digest des Weltkinos. Auf diese Weise ist Lelouch sein eigenes kleines Filmfestival, bei dem er alle Preise selbst kassiert.