Rede von Rebecca Casati über die Bedeutung des Feuilletons und der Kulturkritik in demokratiefeindlichen Zeiten
Am 17.10.2018, zur siebten Verleihung des Michael-Althen-Preises, hielt Rebecca Casati, Journalistin, Autorin und Verlagslektorin, Witwe von Frank Schirrmacher, eine Rede zum Thema Kritik. Hier ist der Beitrag nachzulesen:
Guten Abend,
liebes Publikum, liebe Bea Althen, liebe Veranstalter von der FAZ, lieber Ulrich Khuon und liebe Juroren.
Mein Name ist Rebecca Casati, und in meinem Beitrag soll es heute Abend um Kritik gehen. Nicht zuletzt, weil die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit ihrer Kritik und ihren Kritikern Großes bewegt und erlebt hat.
Wir alle erinnern uns an Fall des legendären FAZ-Theaterkritikers Gerhard Stadelmaier, dem auf einer Frankfurter Theaterpremiere zunächst sein Kritikerblock entrissen wurde und der dann auf das Unflätigste aus dem Saal geschrien wurde.
Wir alle erinnern uns an Marcel Reich-Ranicki, schon weil wir alle jemanden kennen, der glaubt, ihn perfekt nachahmen zu können und zu müssen.Wir erinnern uns an den offenen Brief meines Mannes, Frank Schirrmacher, der Martin Walser attackierte, nachdem dieser, nur dürftig kaschiert, Marcel Reich-Ranicki in seinem Buch „Tod eines Kritikers“ attackiert hatte.
Und wir erinnern uns an Michael Althen, der zehn Jahre lang in der FAZ so über Filme schrieb, dass wir es gar nicht vergessen können. Der zum Leitbild des wahrhaftigen Kritikers wurde, und in dessen Namen und Geist hier im Deutschen Theater nun zum 7. Mal ein Preis verliehen wird.
Vor ziemlich genau zwanzig Jahren lernte ich Michael Althen kennen, bei der SZ in München. Ich arbeitete beim Jugendmagazin „jetzt“, er war bereits ein bedeutender Feuilletonkritiker mit eigenem Tisch in „Schumans Bar“ und einem nach ihm benannten Getränk.
Freundlich und großzügig, wie er war, schrieb er für das kleine „jetzt-Magazin“ eine wöchentliche Kritik über das, was uns Jungredakteuren bedeutsam erschien; nämlich über jene geldvernichtenden, bedeutungshubernden und zumeist völlig sinnentleerten Videoclips, die damals bei MTV und Viva liefen. Anders als wir Mitte Zwanzigjährigen gab Althen in seiner Kolumne immer zu, dass er diese Clips gar nicht verstand (zumal es bei ihnen eben auch gar nichts zu verstehen gab).
So schrieb er über einen Clip von Marusha, in dem viele albern gekleidete Menschen besinnungslos durcheinanderravten: „Da ist wieder so ein Video, das Stubenhockern wie uns schlagartig Depressionen beschert. Warum haben wieder mal alle Spass, nur wir nicht?“
Über den dreieinhalb Minuten langen und wahrscheinlich eben so viele Millionen teuren Rolling Stones-Clip „Like a Rolling Stone“, in dem Hollywoodstar Patricia Arquette zu sehen war, schrieb er: „Die Geschichte ist nicht ganz klar. Irgendwie scheint Patricia Arquette auf der Suche nach Drogen zu sein, dabei zu scheitern, aber gleichzeitig als Groupie Drogen zu kriegen und zu kotzen. . . so oder so. Sie ist entzückend.“
Über ein Video der heute komplett vergessenen Band „Portishead“ schrieb er ganz sachlich: „Ob dieses Video eigentlich super ist, können wir nicht sagen, weil wir es mal wieder nicht verstehen. . .“
Das war für einen bedeutenden Kritiker undogmatisch. Unkritikerhaft. Und ungeheuer sympathisch. Denn per se ist Kritik vermessen. Ein Kritiker schwingt sich auf, setzt sich hinweg, ist zumindest mal gleichauf mit dem Künstler oder dem Kunstwerk. Er hat durchdrungen, er kann korrigieren. . . . – Wenn Kunst von Können kommt, dann kommt Kritik von Nichtselbermachen und trotzdem das letzte Wort haben. Zumindest schien das so. Bis vor etwa 15 Jahren.
Das exakte Datum habe ich vergessen, nie aber das beklemmende Gefühl, mit dem wir Journalisten in den Nullerjahren das erste Mal die Kommentare unter unseren Texten lasen, welche die Zeitungen, für die wir schrieben, in ihre sogenannten Online-Auftritte gestellt hatten. Mittlerweile sind wir alle längst vertraut mit dem Format „Kommentarspalte“. Damals aber war das ein neues Tool, sogar ein neuer Ausdruck von Demokratie. Eine Verschiebung des Machtgefüges deutete sich an: Als Kritiker konnte man plötzlich jederzeit selber kritisiert werden. Und, allerschlimmstenfalls – überflüssig werden. Was für ein Schock. Natürlich auch ein narzisstischer. Beinahe so, als hätte uns allen jemand den Schreibblock entrissen: Wir Journalisten hatten plötzlich nicht mehr das letzte Wort.
Gerhard Stadelmeier war dies in einem geschlossenen Raum passiert, durch einen Schauspieler. Was unangenehm genug ist, aber zumindest noch etwas von offenem Visier hat. Während man sich selber fortan dauerhaft am Kommentarspalten-Pranger sah, öffentlich ausgepeitscht von „Hack89“, „La-di-da“ oder anderen gesichtlosen Kritikern mit nachlässigen Phantasienamen –
Aber auch das kam wieder ganz anders.
Die Kommentarspalte ist heute kein etablierter, demokratischer Kritiker-Pool. Sie ist ein Slum. Unter „Kritik“, so sagt es ganz simpel der Duden, versteht man die Beurteilung eines Gegenstandes oder einer Handlung anhand von Maßstäben. Neunzig Prozent der Kommentarspaltenkritik aber lehnt Maßstäbe ab, will nicht erläutern, fein aufschlüsseln oder pointieren. Sie will bashen, und sie will polarisieren. Aktuell am liebsten bei den Themen „Flüchtlinge“ und „Feminismus“.
Nach anfänglicher Reichweiten-Euphorie haben viele Zeitungen und Magazine ihre Kommentarspalten mittlerweile wieder geschlossen oder sie in gesteuerte Feedback-Foren verwandelt, wofür manche Verlage ein Heer von Community Managern beschäftigen müssen, deren Job es ist, den hasserfüllten und sehr häufig rechtsextremen Dreck herauszufiltern, den selbsternannte Kritiker und sogenannte Trolle bei ihnen hinterlassen. Und weil das Ganze heute mit einer demokratischen Errungenschaft fast gar nichts mehr zu tun, war diese eine Angst im Nachhinein unbegründet: Kritik ist durch die vielen Stimmen und Foren nicht überflüssig geworden, im Gegenteil. Ihr Wort ist wichtiger denn je.
Warum aber auch die Customer-Review-Spalten von „amazon“ oder „Tripadvisor“ sie niemals ersetzen können oder dürfen?Weil man im Netz Ablehnung produzieren und Zustimmung kaufen kann. Weil man dort also beides faken kann. Und weil Fake und Kritik nun mal Antipoden sind.
Trotzdem, und wie gesagt, ist Kritik nicht die sympathischste aller journalistischen Disziplinen. Man kann aber auch sagen: Sie wird immer das Gegenteil sein von Fatalismus und Gleichgültigkeit. Das macht sie heute wahrscheinlich zur wichtigsten aller journalistischen Disziplinen.
Kritik schafft Einordnung. Dafür braucht sie Herz, Verstand, ein echtes, menschliches Anliegen. Und sie braucht Maßstäbe. Sie offen und fair zu äußern, sie anzunehmen und damit umgehen zu können: DAS ist Ausdruck von Demokratie.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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