11. Dezember 2022 | keine Angabe | Preisträger*innen | Der Gewinnertext 2021

Michael-Althen-Preis 2021 - Der preisgekrönte Text

"Kebabträume in der Mauerstadt" von Ulrich Gutmair

Erschienen in der Merkur Zeitschrift im Mai 2021, 75. Jahrgang, Heft 864 

Sommer 1978. Die Düsseldorfer Band Mittagspause ist auf dem Weg nach West-Berlin. George Nicolaidis steuert den Wagen. Drin sitzen Sänger Janie Jones alias Peter Hein, Gitarrist Mary Lou Monroe alias Franz Bielmeier, Schlagzeuger Markus Oehlen und Gabi Delgado-López. Gabi spielt bei Mittagspause Diktafon. Manchmal singt er mit. Vor allem aber tanzt er auf der Bühne. Mittagspause sollen beim »Mauerbaufestival« anlässlich der Eröffnung des Punk-Clubs SO36 spielen. Das Festival findet am 11. und 12. August statt, im ironischen Gedenken an den Tag des Mauerbaus am 13. August 1961.

Wer damals von Düsseldorf nach West-Berlin fahren will, muss die Transitstrecke durch die DDR nehmen. An der Grenze gibt es Probleme. Gabi hat nur einen spanischen Pass, und Spanien kein Abkommen mit der DDR. Er muss aussteigen, um ein Transitdokument zu bekommen. Während er auf seine Papiere wartet, hat er Zeit, sich umzusehen. Was ihm am meisten zu denken gibt, sind rote Banner, auf denen in weißen Lettern die deutsch- sowjetische Freundschaft beschworen wird. Gabi findet, das sei wenigstens ehrlich. Zuhause in Westdeutschland könnten Poster hängen, um die deutsch-amerikanische Freundschaft zu feiern, überlegt er, aber die gibt es nicht. Stattdessen US-amerikanischen Kulturimperialismus: nachmittags die Westernserie Bonanza, abends Hollywoodfilme im Fernsehen. Ohne es in diesem Augenblick schon zu wissen, hat Gabi den Namen für eine Band gefunden. Der Trip nach West-Berlin bringt ihn aber auch auf die Idee für ein Lied, das Punk in Deutschland musikalisch, textlich und stilistisch auf den Punkt bringen wird. Und das man darüber hinaus als popmusikalische Gründungsurkunde des Einwanderungslands Almanya bezeichnen könnte.

Das SO36 befindet sich in Kreuzberg, neben Wedding und Neukölln einer der ärmsten Bezirke von West-Berlin. In heruntergekommenen Altbauwoh- nungen und in erst vor wenigen Jahren im Zuge von Willy Brandts großem Berliner Wohnungsbauprojekt fertiggestellten Sozialbauten leben viele ehemalige Gastarbeiter und ihre Kinder. Die türkische Community ist dort präsent wie vielleicht nirgends sonst im westlichen Teil Deutschlands. Als nach dem Militärputsch von 1980 noch einmal viele Türken nach Deutschland kommen, gilt West-Berlin als größte türkische Stadt außerhalb der Türkei.

Gabi fasst die Eindrücke seines West-Berlin-Ausflugs in einem kurzen Poem zusammen, und bald gibt es ein neues Stück im Repertoire von Mit- tagspause: »Kebabträume in der Mauerstadt | | Türk-Kültür hinter Stacheldraht || Neu-Izmir ist in der DDR || Atatürk der neue Herr || Miliyet für die Sowjetunion || In jeder Imbißstube ein Spion || Im ZK Agent aus Türkei || Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei!« Es sind nur insgesamt neun kurze Zeilen, die Gabi im Telegrammstil von Überschriften aus der Boule- vardpresse hingeworfen hat. Sie beschreiben die gesamtdeutsche Gegenwart des Jahres 1978 auf ironische Weise: deutsche Teilung, die Insellage West- Berlins, die neue Sichtbarkeit migrantischen Lebens türkischer Provenienz in den ärmeren Vierteln deutscher Städte und die geschürte Angst vor der so genannten »Überfremdung«. Dieser ursprünglich antisemitische Kampf- begriff wird von Rechtsextremisten und ihren Sympathisanten nun gegen die als besonders fremd markierten Türken in Anschlag gebracht.

Bei der Zeile »Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei« kippt Gabis Stimme leicht ins Hysterische. (Im Original von Mittagspause singt Peter Hein, aber später spielt Gabi das Stück mit Deutsch Amerikanische Freundschaft selbst noch zweimal ein.) Der Witz dieses Texts besteht offenkundig darin, dass die »Türk Kültür« als so weltverschwörungsmäßig umfassend und übermächtig dargestellt wird, dass sie nicht nur das überschaubare

Territorium von West-Berliner Imbissstuben kontrolliert, in denen man Döner Kebab erstehen kann, sondern auch gleich den gesamten Ostblock. Der Untergang des Abendlands, jetzt ist er da. Die Rote Gefahr ist durch den weißen Halbmond noch zersetzender geworden – und selbst die Kommunisten, eben noch als besonders verschlagener Erzfeind aus dem Osten gezeichnet, werden der Orientalen anscheinend nicht mehr Herr.

Die vielleicht größte Ironie von Kebabträume besteht aber in einem historischen Zusammenhang, der dem Szenario des Lieds unausgesprochen zugrunde liegt: Das Jahr 1961 war nicht nur das Jahr des Mauerbaus, sondern auch des Anwerbeabkommens Deutschlands mit der Türkei, das sich im Oktober 2021 zum sechzigsten Mal jährt. Zwei Monate nachdem die Führung der DDR der Massenflucht ihrer Bürger in den Westen durch Mauer und Stacheldraht ein Ende setzt, vereinbart die Regierung der Bundesrepublik Deutschland die Entsendung von Gastarbeitern aus der Türkei. Sie sollen nur zwei Jahre bleiben und dann durch neue Arbeitskräfte ersetzt werden. Das nannte man Rotationsprinzip; daher der Begriff »Gastarbeiter«. Doch schon bald wurde das Rotationsprinzip aufgrund des Drucks westdeutscher Unternehmen gekippt.

»Das war ja ’ne einzigartige Situation, umgeben von Stacheldraht, inmitten eines kommunistischen Staates diese Türk-Kültür vorzufinden in voller Blüte«, hat Gabi das in einem Gespräch kommentiert, das ich im Jahr 2010 per Telefon mit ihm führte. Nach langen Jahren in Berlin war er in seine Heimatstadt Córdoba zurückgekehrt und bereitete gerade das letzte, bis zu seinem Tod anhaltende Comeback von Deutsch Amerikanische Freundschaft vor. Wenig später werden DAF im Festsaal Kreuzberg bei einem Konzert auftreten, das als »Heimatabend« annonciert wird.

Anlass unseres Telefonats war aber etwas anderes, eine Sondernummer der taz, die sogenannte Deutschlandtaz, die als Reaktion auf den immensen Erfolg von Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab und seine Thesen entstand. Wir hatten uns entschieden, diese Ausgabe der Zeitung gerade nicht in einem wohlmeinend linksalternativ-multikulturalistischen Gestus als »Migrantentaz« firmieren zu lassen, was den Diskurs über fremde Elemente im Volkskörper unserer Meinung nach nur bestätigt hätte, sondern dezidiert als Deutschlandtaz. Das fand Gabis ungeteilte Zustimmung.

Man kann die Zeile »Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei« als satirische Vorwegnahme von Deutschland schafft sich ab lesen. Ich fragte Gabi Delgado-López also: »Damals war es ein satirischer Pop-Slogan, heute kann man mit fast demselben Spruch Millionen Bücher verkaufen. Was ist da passiert?« Er antwortete: »Ich würde sagen: Mit einem ähnlichen Slogan. Denn wenn man sich die Nuancen ansieht, dann gibt es eine aktive Komponente bei Sarrazin: Deutschland schafft sich selber ab. Während in unserem Slogan kismetmäßig mit Deutschland etwas passiert, es also eine passive Rolle spielt. Da sehe ich den großen Unterschied, dass Sarrazin der deutschen

Politik und Gesellschaft unterstellt, zu liberale Politik zu machen.« Allerdings sind die Anwerbeabkommen genauso wenig schicksalhaft über Deutschland gekommen wie Angela Merkels Entscheidung, auf die syrische Flüchtlingskatastrophe nicht mit geschlossenen Grenzen zu antworten. Eben dieser Umstand liegt der Verschwörungstheorie des zeitgenössischen, identitären Neofaschismus zugrunde: der große, von den Eliten aktiv gewollte

»Bevölkerungsaustausch«.
Wer die Debatten der Gegenwart verfolgt, könnte den Eindruck bekommen, erst in den vergangenen zehn Jahren, also grob seit Sarrazins Bestseller, dem größten deutschen Sachbucherfolg seit Mein Kampf, sei die deutsche Gesellschaft mit der Diskriminierung von Minderheiten, mit Fragen zu nationaler, kultureller und sexueller Identität und mit emanzipatorischen Gesten der Selbstermächtigung konfrontiert worden. Dass dem nicht so ist, lässt sich exemplarisch an der Biografie, mehr aber noch am Werk von Gabi Delgado-López zeigen, der am 18. April 1958 in Córdoba geboren wurde und am 22. März 2020 in Portugal starb.

Gabi hatte ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein, er verstand sich bis zuletzt als Kommunist. Er war ein radikaler Künstler mit einem wachen Blick für Gesten, Bekleidungsstile, Images. Er liebte die deutsche Sprache und konnte den Zeitgeist lesen, jenes Konglomerat subkutaner Wünsche, noch nicht ganz ausformulierter Ideen, die sich anschicken, den gesellschaftlichen Trend zu setzen. Viele seiner künstlerischen Antworten auf zeitgenössische Fragestellungen waren ihrer Zeit voraus. Wer die klassischen Alben von Deutsch Amerikanische Freundschaft – Die Kleinen und die Bösen, Alles ist gut, Gold und Liebe, Für immer – heute hört, nimmt keine schwachen, schwer dechiffrierbaren Echos aus der Vergangenheit wahr, sondern wohnt dem Anfang einer Geschichte bei, die unsere Gegenwart prägt.

Kebabträume endet mit der mehrmals wiederholten Formel »Wir sind die Türken von morgen«. Durch Übertreibung macht sich der gesamte Text von Kebabträume über die Übertragung des antisemitischen Motivs der jüdischen Weltverschwörung auf die türkischen Gastarbeiter lustig. Die letzte Zeile denkt den Überfremdungshorror logisch zu Ende. Sie nimmt vorweg, was Deniz Yücel in einem Kommentar zum fünfzigsten Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei schrieb, als er darauf hinwies, »dass die Gastarbeiter dazu beitrugen, Deutschland undeutscher zu machen – eingedenk dessen, wofür Deutschsein in den vorangegangenen Jahrzehnten gestanden hatte, eine zivilisatorische Großtat«. Das ist zumindest in Bezug auf Gabi Delgado-López’ Werk allerdings bestenfalls die halbe Wahrheit. Dieses Ausländerkind hat Pop in Deutschland glamouröser, futuristischer, verschwitzter, tanzbarer, körperlicher – aber auch deutscher gemacht.

Ein Jahr nach Gabis Geburt muss sein Vater, ein kommunistischer Philosophielehrer, Spanien, wo noch bis 1975 der Diktator Francisco Franco regiert, aus politischen Gründen über Nacht verlassen. Gabis Mutter folgt dem Vater ein Jahr später nach. Ihr bis dahin einziges Kind lassen die Eltern bei Großmutter Rosario Léon de Delgado zurück. Gabi erinnert sie später als elegante Dame. Er wächst in einem großen Haus mit zwei Innen- höfen und vielen Zimmern auf; es ist ein Frauenhaushalt, auch zwei seiner Tanten leben dort. Der Großvater ist während des Spanischen Bürgerkriegs erschossen worden. Einzige männliche Bezugsperson ist Onkel Feliciano, ein Jesuit und Philologe. Vielleicht weil Gabis Eltern nach Deutschland gegangen sind, bringt Feliciano seinem Neffen die deutsche Kultur nahe: Bach, Händel, Hesse. Seine Eltern kennt Gabi vor allem als Stimmen am Telefon, bis diese beschließen, ihn nach Deutschland zu holen. Dort hat Gabi inzwischen Geschwister bekommen. Sein jüngerer Bruder Eduardo ist gerade geboren worden, als der inzwischen achtjährige Gabi das Haus der Großmutter verlässt und »im fast asozialen Milieu der ersten Gastarbeiter« in Deutschland ankommt, wie Gabi es beschreibt.

»Mein Vater war ein gebildeter Mensch, konnte aber kein Wort Deutsch, so hat er als Hilfsarbeiter in den Kabelwerken Reinshagen angefangen. Als ich nach Deutschland geholt wurde«, erzählte Gabi weiter, »waren das mein Vater, meine Mutter, zwei Kinder, dann wurde das dritte geboren, in einem Zimmer, also unter inframenschlichen Bedingungen. Wie es heute ja vielen Leuten geht, die eben nicht mehr aus Spanien kommen, sondern aus Algerien oder Tunesien.« Familie Delgado-López lebt damals in einer Einzimmerwohnung mit Außentoilette, ein Vorhang trennt Eltern- und Kinderzimmer. Für die Nacht gibt es einen »Pisspott«.

Ich habe Gabi damals gefragt, ob er sich als »Ausländer«, als Kind, das mit acht eine neue Sprache in einem neuen Land lernen musste, ausgeschlossen fühlte. »Nein, als Kind hab ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Ich hab aber sehr schnell gemerkt, dass ich mich durchsetzen muss. Dass ich schnell mich durchsetzen muss, stark und frech sein muss. Man muss sagen, zu der Zeit gab es noch weniger Ausländer. Und es war vielleicht nicht so schwierig, weil es einen gewissen Exotenbonus hatte. In meiner Klasse waren ich und ein Italiener die einzigen, auf der ganzen Schule gab’s vielleicht acht Ausländer. Ich bin 1966 gekommen. Da hatten die Italiener schon als Gastarbeiter aufgehört, es war die Zeit der Spanier, Portugiesen und Griechen. Die Türken kamen erst später.«

Möglicherweise rührt Gabis Eindruck davon, dass noch nicht so viele türkische Kinder in die Schulen gingen. In der Tat war Italien das erste Land, das 1955 mit der Bundesrepublik Deutschland ein Anwerbeabkommen schloss. 1960 folgten Spanien und Griechenland, ein Jahr später die Türkei. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Bundesrepublik, unter anderem befördert durch die Wirtschaftshilfen der Amerikaner, durch die Übernahme von deren effizienteren Produktionsweisen und durch die Währungsreform, ein anhaltendes Wirtschaftswachstum erlebt. Dass viele deutsche Industrieunternehmen in der Nachkriegszeit auch durch die von einem weit unter Tarif bezahlten Millionenheer von Sklavenarbeitern in den 1940er Jahren erwirtschafteten Profite gut aufgestellt waren, hat die bundesdeutsche Wirtschaftswissenschaft meines Wissens bis heute mehrheitlich unbeachtet gelassen.

Dabei hat der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Kuczynski in seinem 2004 erschienenen Buch Brosamen vom Herrentisch diese Rechnung aufgemacht: Die aus Zwangsarbeit abgeschöpften Gewinne hatten Investitionen ermöglicht, die erst in der jungen Bundesrepublik ihre Wirkung entfalteten. Der Krieg führte nicht nur zu einer Modernisierung der deutschen Industrie. Die tatsächlichen Investitionen in neue Maschinen waren weitaus weniger Zerstörungen ausgesetzt als gemeinhin angenommen, die Anlagevermögen der Industrie am Ende des Kriegs höher als zuvor. Kuczynski rechnete nun vor, dass der Betrag, der durch Lohnraub gewonnen wurde, ungefähr 40 Prozent der während des Kriegs im gesamten Deutschen Reich getätigten Bruttoinvestitionen entsprach. Das bedeute, dass »mithin die ehemaligen Zwangsarbeitskräfte einen ganz wesentlichen Teil der materiellen Basis dessen schufen, was später als ›Wirtschaftswunder‹ in die Geschichte einging. Der Lohnraub fiel nicht der Währungsreform zum Opfer, denn er war zuvor hoch profitabel angelegt worden«, schrieb Kuczynski.

Im Wirtschaftswunderland glaubte man freilich lieber an die eigene Tüchtigkeit als Quell des zunehmenden Wohlstands. 1954, ein Jahr bevor die Regierung Adenauer das erste Anwerbeabkommen mit Italien unterzeichnete, gab es in Westdeutschland 7,6 Prozent Arbeitslose. »Die Quote aber sank, trotz des Zustroms von Arbeitskräften aus der DDR; mit den Gastarbeitern sollten das Arbeitskräftereservoir vergrößert, Lohnzugeständnisse verhindert werden. Auch wegen dieses präventiven Lohndumpings lehnten SPD, Gewerkschaften sowie der Arbeitnehmer- und der Vertriebenenflügel der Union die Anwerbung ab«, schrieb Deniz Yücel. Gelohnt habe sich der Deal aber »allemal für die Entsendeländer – und für Deutschland. Nicht nur in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, sondern auch, weil die Gastarbeiter jedem Deutschen den sozialen Aufstieg ermöglichten.« Bald fanden sich für schlechtbezahlte, anstrengende, gefährliche und gesundheitsschädigende Tätigkeiten immer weniger deutsche Arbeiter. Die einst aus den von der Wehrmacht besetzten Gebieten verschleppten »Ostarbeiter« standen nicht mehr zur Verfügung, aber Gastarbeiter aus Ländern wie Italien und der Türkei, die unter hoher Arbeitslosigkeit und Außenhandelsdefiziten litten. Sie waren auf Devisen angewiesen.

Aber schon in den sechziger Jahren zeigten sich konjunkturelle Ermüdungserscheinungen. 1973 hatte sich der Wind endgültig gedreht. Inzwischen lebten 3,5 Millionen Ausländer in Deutschland, nun drohte wegen der Ölpreiskrise eine Rezession. Bundeskanzler Willy Brandt warnte, dass »die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft« sei. Seine sozialliberale Regierung beschloss im November 1973 einen Anwerbestopp, der prinzipiell bis heute gültig ist.

Fünf Jahre später, 1978, entstehen nicht nur die Kebabträume. Zur selben Zeit schreibt in Köln ein anderer junger deutscher Sänger ein Lied über die Gastarbeiter. Er nennt sich Ozan Ata Canani. Ata ist ein Spitzname. So wurde er gerufen, weil es schon so viele Mehmets in der Familie gab. »Ozan« steht für Dichter, Poet oder Sänger. Canani heißt: »Der mit dem Herzen gibt und nimmt.« Als Ata Deutsche Freunde schreibt, ist er fünfzehn. Erst drei Jahre zuvor ist er nach Deutschland gekommen. Sein Vater ist einer der ersten türkischen Gastarbeiter. Er soll und will wie alle seine Kollegen, das ist ja die Idee der »Gastarbeit«, zwei Jahre bleiben und dann wieder in die Heimat zurückkehren. Nach drei Jahren ist er immer noch in Deutschland, und nun holt er auch Atas Mutter. Jetzt ist ihr Plan, noch ein Jahr zusammen in Deutschland zu arbeiten. Sie kehren auch wirklich in die Türkei zurück – um ihren Sohn abzuholen. Es ist eine typische deutsche Geschichte, die Geschichte von Einwanderern, die selbst noch nicht wissen, dass sie welche sind.

Ata hat in der Türkei die Grundschule beendet, das neue Schuljahr beginnt für den Zwölfjährigen in Bremerhaven. Später findet der Vater einen Job in Köln bei der Klöckner-Humboldt-Deutz AG. Er zieht um, bald kommt der Rest der Familie aus Bremerhaven nach. Als Ata eines Tages mit seinen Freunden durch die Kölner Innenstadt spaziert, kommen sie unweit vom Ebertplatz an einer großen Brandmauer vorbei, auf der steht: »Ausländer raus«. Daneben wurde ein Hakenkreuz geschmiert. Ata ist schockiert, das kennt er aus Bremerhaven nicht. Später sieht er vor manchen Gasthäusern und Discotheken Schilder: »Türken unerwünscht!« Man erklärt ihm, dass solche Sprüche in allen westdeutschen Großstädten zu lesen sind.
Ata hat sich zur Ankunft in Deutschland als Willkommensgeschenk eine Bağlama, die türkische Langhalslaute, gewünscht. Nun hat er eine Band, mit der er bei türkischen Hochzeitsfeiern, Verlobungsfeiern, Beschneidungsfesten spielt. »Da kamen hin und wieder Leute zu mir, die gefragt haben: Wo- rum geht es denn in diesem Lied? Da hab ich gesagt, über Sehnsucht, Liebe, dies und jenes. Das waren deutsche Gäste, die zu türkischen Feierlichkeiten eingeladen waren. Und eines Tages sagte einer, warum singst du das nicht auf Deutsch? Das war die Idee. Die Sprüche ›Ausländer raus‹ und ›Türken unerwünscht‹ waren dann der Auslöser. Damals habe ich gelesen wie verrückt, um mein Deutsch zu erweitern. Und einmal sah ich ein Heft von der IG Metall, auf dem stand: ›Arbeitskräfte gerufen, Menschen gekommen!‹. Ich habe dann nachgeforscht, um herauszufinden, wer das gesagt hat, und es war Max Frisch. Das war der Ausgangspunkt von Deutsche Freunde«, erzählt Ata.

Seine Bağlama spielt Ata elektrisch verstärkt, die Musik von Deutsche Freunde ist anatolischer Partysound. Der Text ist auf Deutsch, folgt aber einem Schema gesungener türkischer Lyrik, bei dem der Refrain zwischen die Zeilen der Strophen eingeschoben wird: »Arbeitskräfte wurden gerufen || Unsere deutsche Freunde || Aber Menschen sind gekommen || Unsere deutsche Freunde | | Nicht Maschinen, sondern Menschen | | Aber Menschen sind gekommen || Unsere deutsche Freunde, Freunde, Freunde || Sie haben am Leben Freude || Aus Türkei, aus Italien || Aus Portugal, Spanien || Griechenland, Jugoslawien || Kamen die Menschen hierher || Unsere deutsche Freunde | | Kamen die Menschen hierher | | Unsere deutsche Freunde, Freunde, Freunde || Sie haben am Leben Freude || Als Schweißer, als Hilfsarbeiter || Als Drecks- und Müllarbeiter || Stahlbau- und Bandarbeiter || Sie nennen uns Gastarbeiter | | Unsere deutsche Freunde | | Sie nennen uns Gastarbeiter | | Unsere deutsche Freunde, Freunde, Freunde || Sie haben am Leben Freude || Und die Kinder dieser Menschen || Sind geteilt in zwei Welten || Ich bin Ata und frage euch || Wo wir jetzt hingehören || Unsere deutsche Freunde || Ich bin Ata und frage euch | | Wo wir jetzt hingehören | | Unsere deutsche Freunde, Freunde, Freunde || Sie haben am Leben Freude.«

Mit den »deutschen Freunden«, das betont Ata damals wie heute, wenn er danach gefragt wird, meine er nicht das Volk, sondern die Politiker, die damals in Bonn saßen: »Gemeint war: ›Ihr habt am Leben Freude, aber ihr wisst ganz und gar nicht, wie die Leute am Arbeitsplatz arbeiten.‹ Ich war selbst Arbeiter, ich hab auch jede Menge Drecksarbeit gemacht.«

1978 ist das Jahr, in dem zwei der signifikantesten deutschen Pop-Songs der Nachkriegszeit geschrieben werden. Beide behandeln das Leben der Gastarbeiter in Deutschland. Da hören die Gemeinsamkeiten aber auch schon auf. Gabi Delgado-López kommt aus einer bürgerlichen, katholischen, andalusischen Familie. Ozan Ata Cananis Vater ist ein konservativer, frommer Mann, der nicht möchte, dass sein Sohn Musiker wird. Er sieht in Ata einen künftigen Hodscha.
Gabi nimmt in seinem Text satirisch die mehrheitsdeutsche Perspektive der Angst vor den unheimlichen Fremden ein, sein Text ist im Geist von Dada und Punk geschrieben. Ata beschreibt das Problem vom Standpunkt eines Menschen aus, der das Kind eines Gastarbeiters ist, was er deutlich macht, indem er am Ende fragt: »Ich bin Ata und frage euch, wo wir jetzt hingehören«. Er will mit seinen Liedern in die Fußstapfen seines großen Vorbilds Aşık Mahzuni Şerif treten, eines alevitischen Sängers, der poetisch auf die Probleme seiner Zeit hinwies. Das brachte Mahzuni Şerif in der Türkei immer wieder Schwierigkeiten ein, bis hin zu einer Anklage vor einem türkischen Staatssicherheitsgericht. Gabi hat ein Stück geschrieben, das zu einem veritablen Volkslied wurde. Bei Mittagspause, der Band, die es als Erste live spielt und aufnimmt, trägt es den Titel Millitürk. Die deutsche Jugend erreicht dieser Song aber erst durch Monarchie und Alltag, das erste Album von Fehlfarben, bei denen Peter Hein nach dem Ende von Mittagspause singt. Monarchie und Alltag erscheint im Oktober 1980, steigt aber erst knapp ein Jahr später in die deutschen Charts ein. Das Album erreicht Platz 37 und hält sich 24 Wochen. Pophistoriker haben nicht weniger als 40 Cover- Versionen von Kebabträume gezählt, darunter etwa die etwas kuriose Fassung der Straßenpunks von OHL, die den Text nicht richtig verstanden haben. Da wird unter anderem aus »Türk-Kültür« eine ominöse »Türkentür«, ein Missverständnis, das für sich genommen schon mehr als sprechend ist.

Für die Generation X gehört Kebabträume zum Pop-Kanon, die Jungen von heute kennen das Lied nicht mehr. Bei Deutsche Freunde ist es umgekehrt. Als Imran Ayata und Bülent Kullukcu vor einigen Jahren Lieder für ihre Kompilation Songs of Gastarbeiter sammelten, ging Ozan Ata Canani ins Studio und nahm Deutsche Freunde noch einmal auf. Das Lied war bereits in den Nullerjahren von einer neuen Generation wiederentdeckt und vielleicht jetzt erst richtig verstanden worden. Dieser Tage erscheint Ozan Ata Cananis erstes Album Warte mein Land, warte beim Berliner Label Staats- akt. Atas Deutsche Freunde wurde ursprünglich auf einer Kassette veröffentlicht, die man in türkischen Läden kaufen kann. Es dringt nicht zum Mainstream durch, wenn man davon absieht, dass Ata 1982 mit seiner Band bei Bios Bahnhof im deutschen Fernsehen auftritt. 1982 ist die Hochzeit der Neuen Deutschen Welle, aber in ihr ist für türkische Musik mit deutschen Texten kein Platz. Allerdings veröffentlichen Ideal, eine der herausragenden Bands der NDW, in diesem Jahr ihr drittes Album Bi Nuu, auf dem Aşk, Mark ve ölüm (Liebe, D-Mark und Tod) zu hören ist. Es ist vermutlich das erste Stück einer deutschsprachigen Popband, das türkische Lyrics hat.

Auf dem ersten Album von Ideal war bereits Berlin zu hören, Hymne auf eine Stadt, in der die Türken von Kreuzberg gleich mehrfach genannt werden und die selbstverständliche Beschreibung des deutsch-türkischen Zusammenlebens implizit die Frage beantwortet, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist oder nicht. Am Anfang heißt es: »Kottbusser Tor, ich spring’ vom Zug | | Zwei Kontrolleure ahnen Betrug | | Im Affenzahn die Rolltreppe rauf || Zwei Türken halten die Beamten auf || Oranienstraße, hier lebt der Koran || Dahinten fängt die Mauer an«. Die Erzählerin fährt schwarz, den Beamten der BVG gelingt der Zugriff aber nicht, weil sich zwei Türken in den Weg stellen, Kreuzberger Solidarität. Wenig später riecht es nach »Oliven und Majoran« was sich auf Koran reimt. Dann kehrt die Erzählerin nach Hause zurück. »Fenster auf, ich hör’ Türkenmelodien || Ich fühl’ mich gut, ich steh’ auf Berlin.«

Mit Aşk, Mark ve ölüm nehmen Ideal diesen Faden wieder auf. Den Text hat Aras Ören, der erste deutsche Dichter türkischer Sprache, geschrieben, der viele Jahre selbst in Kreuzberg lebte. Das Lied handelt von der düsteren, langen, aber falschen Liebe zur deutschen Mark: »Kara sevda uzun sevda || Mark dediğin yalan sevda | | Köşeyi döndüm tam | | Ölüm çıktı karşıma | | Aşk Mark ve ölüm || Aşk ne güzel umut dolu || Yıllar geçti yüzüm soldu || Mark dediğin yalan sevda || Hayaller hep tuz buz oldu || Ağla tepin bağır çağır || bize.« Es liegt nahe, im Erzähler einen Gastarbeiter zu sehen, der zu lange in Deutschland geblieben ist, der fern der Heimat vor Verzweiflung schreit, um sich am Ende eingestehen zu müssen: »Der Tod kommt billig zu uns.«

Aras Ören wurde 1939 in Istanbul geboren, 1969 zog er nach Berlin. Hier teilt der Dichter das Schicksal der Gastarbeiter, begleitet und beobachtet sie. Er muss in der Fabrik arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. In seinen Gedichten geht es um die Sprachlosigkeit der Einwanderer, und er reflektiert in ihnen, was es heißt, als Schreibender, der auf Übersetzer angewiesen ist, mit einer »geliehenen Sprache« arbeiten zu müssen. Als ich Aras Ören vor vier Jahren in Wilmersdorf besuchte, sagte er, er sei der Erste gewesen, der den Deutschen wie den Gastarbeitern klargemacht hat, dass sie einer Illusion aufsäßen. »Ich habe schon 1972 in einer Aspekte– Sendung gesagt, da war von Integration noch keine Rede: ›Ein Fluss kehrt nicht zurück zu seiner Quelle.‹ Ich war der Erste, der entdeckt hat, dass es keine Gastarbeiter sind, sondern dass es eine Einwanderungswelle ist. Denn langsam wurden die Kinder geboren. Die Situation konnte nicht so bleiben: Entweder wir sitzen in diesem Stuhl oder in einem anderen. Die Einwanderer können mit ihrer alten Identität und ihrer mitgebrachten Kultur nichts mehr anfangen. Es muss eine neue Kultur und eine neue Identität entstehen.«

In einem seiner Gedichte, Die Fremde ist auch ein Haus, heißt es: »Wo ist jetzt meine Fremde, wo meine Heimat? Die Fremde meines Vaters ist meine Heimat geworden. Meine Heimat ist die Fremde meines Vaters.« Aras beschreibt die Ursache der Konflikte zwischen Eltern, die als Gastarbeiter gekommen waren, und ihren Kindern. Ebendies war auch der Konflikt zwischen Ata Canani und seinem Vater: »Ich habe bis 1985 Kontakt mit ihm gehabt, dann aber abgebrochen, weil er sagte: Du sollst dich nicht so sehr in die deutschen Verhältnisse einmischen. Ich sollte mehr Türke sein. Ja, ich bin Türke. Die Türkei und die türkische Kultur habe ich nicht vergessen. Das liegt mir am Herzen. Aber ich bin der Meinung, man soll sich ein bisschen anpassen an das Land, in dem man lebt.«

Am 1. Oktober 1982 wurde Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt. Vier Wochen später traf er sich mit der britischen Premierministerin Marga ret Thatcher. Kohl sagte ihr, über die nächsten vier Jahre werde es notwedig sein, die Zahl der Türken um 50 Prozent zu reduzieren, aber er könne dies noch nicht öffentlich sagen. So steht es im geheimen Gesprächsprotokoll der Briten, das inzwischen der Öffentlichkeit zugänglich ist. Es sei unmöglich für Deutschland, die Türken in ihrer gegenwärtigen Zahl zu assimilieren. Deutschland habe aber kein Problem mit den Portugiesen, den Italienern, selbst den Südostasiaten, weil diese Gemeinschaften sich gut integrierten.

Kaum ist Gabi bei den Eltern in Deutschland angekommen, zieht die Familie nach Wuppertal, dann in immer neue Städte und Dörfer im Bergischen Land und im Ruhrgebiet. Der Vater hat als Hilfsarbeiter an der Kabelmaschine angefangen, als gebildeter Mann steigt er aber schnell auf. Die Wohnungen werden größer, die Fernseher auch, bald gibt es ein Auto, und schließlich kauft der Vater ein Haus. Doch kaum ist das bürgerliche Domizil bezogen, verschwindet der Vater mit seiner jungen Geliebten, einer Apothekerin, von einem Tag auf den anderen. Er hat Geld unterschlagen, wird von Interpol gesucht. Gabi sieht den Vater nie wieder.

Mit vierzehn ist er zum zweiten Mal vaterlos, durch die vielen Umzüge ist er entwurzelt geblieben. Als Ältester kümmert er sich um die jüngeren Geschwister, inzwischen sind es drei. Mit fünfzehn zieht er aus, sein neues Zuhause wird die Disco. Mit zwanzig steht er auf der Bühne, und 1981 schließlich nimmt er zusammen mit Robert Görl, der die Sequenzer programmiert und Schlagzeug spielt, im Studio von Conny Plank eines der wichtigsten Alben deutschsprachiger Popmusik auf: Alles ist gut. Dieses Album, das auf seinem Cover Gabi und Robert nur mit Schweißperlen bekleidet porträtiert, leistet nicht weniger, als das Verhältnis einer ganzen Generation zu Männlichkeit, Liebe, Sex und Stil, zur deutschen Vergangenheit und zur deutschen Sprache neu zu definieren. Das verstehen viele nicht, viele Junge aber schon.

»Die ganze Erde wird wieder beben || Wenn ihr es wollt || Wollt ihr, dass die Erde wieder bebt || Wollt ihr, dass die Erde sich bewegt || Bewegt euch || Wenn ihr es wollt«. Was ist von jungen Leuten mit superkurz geschnittenen Haaren zu halten, die so was singen? Ist das nicht der Sound von Goebbels? Oder dieses Lied, das nur aus einer einzigen Zeile besteht: »Die lustigen Stiefel marschieren über Polen«. Das wiederum klingt, als würden die Gebrüder Grimm vom Überfall der Wehrmacht auf Polen erzählen. Dem Reiz des Verbotenen, der Tabuisierung und Mystifizierung der Nazi-Vergangenheit entgegnen DAF den sehr tanzbaren Witz, sich »Mussolini«, »Hitler«, »Jesus Christus« und »Kommunismus« als Bezeichnungen für Tanzstile vorzustellen und so die »heiligen Wörter« vom Altar zu schubsen. Auf der Bühne singt Gabi anfangs deutsches Liedgut wie Wenn die Bettelleute tanzen (»Wackeln Kober und der Ranzen«) und Schlager aus den Zwanzigern über die Fesche Lola.

Andere stoßen sich an der als »kitschig« betrachteten Sprache der Liebeslieder von DAF. Die Musikkritikerin Ingeborg Schober fragt Gabi im Jahr 1981: »Kann es sein, dass du diese Unbefangenheit hast, weil du zweisprachig aufgewachsen bist?« Gabi: »Kann sein, ich scheue ja vor nichts zurück. Liebling oder Schatz, das finde ich sind ganz tolle Wörter. Ich finde die deutsche Sprache auch ungeheuer singbar.« Gabi hat sich immer wieder den Spaß gemacht, das Akronym DAF mit »Deutsch als Fremdsprache« zu übersetzen.

Haben die Ausländer, die nach Deutschland kamen, um hier zu arbeiten, die Deutschen also undeutscher gemacht? Mit Blick auf Gabi Delgado-López muss man festhalten, dass es das Ausländerkind Gabi war, das zusammen mit Robert Görl jungen Deutschen, egal woher ihre Eltern kamen, ein Identifikationsangebot machte, das ihnen die Aneignung der deutschen Sprache als coole Pop-Sprache ermöglichte.

Ingeborg Schober gefällt das Album Alles ist gut. Anders als manche männlichen Kollegen versteht sie auch, was es so außergewöhnlich macht: Es entwirft eine neue Idee von Männlichkeit. »Alles ist gut bringt die Ge- fühle zum Schwingen, Sehnsüchte nach kraftvoller Zärtlichkeit«, schreibt Schober.

DAF präsentieren sich als sexy Lederboys. Ihr Lied Der Räuber und der Prinz ist vermutlich der erste deutsche Popsong, der die Liebe zwischen zwei Männern als selbstverständlich, im Stil eines deutschen Märchens präsentiert. Die Liebeslieder von DAF sind so formuliert, dass sie in alle Richtungen lesbar sind. Der Erzähler könnte aus der Perspektive eines Manns oder einer Frau sprechen, er könnte eine Frau adressieren, genauso gut aber einen Mann: »Drück dich an mich || So fest wie du kannst || Liebe mich mein Liebling || Als wär’s das letzte Mal«. Diese beiden jungen Männer ergehen sich in faschistischer Verherrlichung von Kraft, Muskeln, Männlichkeit und

Jugend und zersetzen sie zugleich durch Ambivalenz und den Ausdruck eines Begehrens, das sich keinen Ersatz suchen muss, sondern ausdrückt, was es will. »Du bist so stark. Du bist so schön.« DAF haben keine Angst davor, dem sexuellen Begehren Ausdruck zu verleihen und rigide Vorstellungen sexueller Identität radikal infrage zu stellen. Der homoerotische Aspekt ihres Images sei damals provokanter gewesen als ihre Aufforderung, den Mussolini und den Hitler zu tanzen, hat Gabi immer wieder betont.

Gabi Delgado-López hat mit zwölf oder dreizehn erste sexuelle Erfahrungen mit älteren Freunden gemacht. »Ich fühlte mich zu Hause nicht wohl und lernte dann interessante Männer kennen, die mir auch sehr viel beige- bracht haben. Das war eine Zeit, da hab ich mich treiben lassen. Das hat mir gefallen so. Ich hab oft gedacht: Prima, jetzt bin ich wieder völlig willenlos, herrlich!«, hat er Nike Breyer in einem Interview erzählt. »Nach Jahren mit Fußballhools bin ich in diesen schwulen Kreisen erstmals gebildeten, gut- riechenden Männern begegnet, die Godard kennen und mir was beibringen können über Kunst, Kultur, auch Genüsse der sexuellen Kultur. Das ist im Prinzip für unterprivilegierte junge Männer eine sehr gute Sozialisation, die Homosexualität.« Man kann sich das diebische Grinsen Gabis bei diesem Vorschlag zur Verbesserung der Integration von Ausländern gut vorstellen.