Michael-Althen-Preis 2024 - Der preisgekrönte Text
"Die Löschpapierfrau" von Xaver von Cranach
Wie landet eine unbekannte, tote dänische Schriftstellerin auf internationalen Bestsellerlisten? Über die zwei Leben der Tove Ditlevsen, von denen das eine unglaublich und das andere unwahrscheinlich war.
Erschienen im Der Spiegel am 25. November 2023
Vielleicht muss man diese Geschichte von ihrem Ende her beginnen. Begraben ist Tove Ditlevsen auf dem Vestre Kirkegård in Kopenhagen. Das Zentrum des Friedhofs ist ein kleiner angelegter Teich, der vom Herbstlaub befleckt ist. Um den Teich herum liegen die prächtigen Gräber derer, die die Stadt und das Land geprägt haben, Ministerpräsidenten, Künstler, Polarforscher.
Das Grab von Tove Ditlevsen findet sich nicht am See, sondern ein paar Hundert Meter weiter, jenseits einer Straße, zwischen völlig überwucherten Gräbern links und rechts.
Geboren am 14. Dezember 1917, ist auf dem Grabstein zu lesen, was überraschenderweise stimmt. Ditlevsen hatte immer angegeben, erst 1918 geboren zu sein. Ihr volatiles Verhältnis zur Wahrheit endete in diesem Fall also beim Granit. An einem Montag im März 1976 wurde Tove Ditlevsen tot aufgefunden, sie war 58 Jahre alt, und es war nicht ihr erster Suizidversuch gewesen. Nach 30 veröffentlichten Büchern, vier Ehemännern, mehreren illegalen Abtreibungen, jahrzehntelanger Drogenabhängigkeit und vielen psychiatrischen Klinikaufenthalten setzte sie ihrem Leben ein Ende.
Vielleicht ist es aber auch arg manipulativ, so zu beginnen. Wenn man vom Ende her erzählt, setzt man alles Vorangegangene schon auf eine Bahn. Unweigerlich wird das Erzählte mit einer Notwendigkeit versehen, die so vielleicht gar nicht bestand. Das gilt, wenn man über fremde Leben schreibt. Umso mehr, wenn es das eigene ist. Das ist die Grundspannung, die das Genre des autobiografischen Schreibens ausmacht. Wie viel freien Willen erlaubt sich eine Autorin im Rückblick, wie viel Determination? Was musste so kommen, wo ist man freiwillig abgebogen, das sind die schmerzvollen Stellen einer Autobiografie. Schreibt man über Tove Ditlevsen, ist es schwer, sich diesem deterministischen Sog zu entziehen. Wo man hinsieht, es scheint nur Leid zu geben.
Nach einem ihrer Selbstmordversuche, der nicht glückte, weil man sie rechtzeitig in einem Schlafsack im Wald fand, gab sie ein Interview, in dem sie sagte: »Meine Körpertemperatur betrug 26 Grad, als man mich fand, da ist man tot, das steht so in den medizinischen Lehrbüchern. Daher werde ich nie Angst vor dem Tod haben. Im Übrigen ist es ziemlich schrecklich, wieder zum Leben erweckt zu werden, aber da ich Zwischenstadien nicht leiden kann, dachte ich: Na, du bist also nicht gestorben, Tove, dann musst du leben.«
Mehr als 40 Jahre nach ihrem Tod wurde Tove Ditlevsen nun zum Leben erweckt. Sie wird gefeiert und gelesen, verehrt und auf ein Podest gestellt. Ihre Gedichte, Romane und Erzählungen, übersetzt in über 30 Sprachen, sind, so scheint es, nie ausgekühlt. Ein Wort wurde dafür geschaffen: »Tove-Fieber« nennen sie das in Dänemark. In der Nationalbibliothek in Kopenhagen kann man nicht nur ihre sämtlichen Bücher auf einem eigens eingerichteten Tisch bewundern, sondern auch eine Buchstütze in Form von Ditlevsens Konterfei kaufen.
Tove Ditlevsen, das ist die vielleicht spektakulärste Wiederentdeckung der vergangenen Jahre. Verkannt, vergessen, von der Gesellschaft zugrunde gerichtet, das war der Grundton, der über die USA wieder nach Europa schwappte. Wobei zumindest das mit dem »vergessen« nie stimmte, denn egal wen man fragt, den Biografen, der gerade ein Buch über sie geschrieben hat, den Literaturwissenschaftler, der sich mit ihrem Werk befasst, die Schauspielerin, die sie in einem Film spielt, oder die Kneipenbesitzerin, die in Ditlevsens altem Stammlokal hinter dem Tresen steht, sie alle sagen nicht nur bewundernd, sondern mit einem geradezu patriotischen Stolz: Zu ihrer Beerdigung seien damals Tausende Kopenhagener gekommen.
Über Tove Ditlevsen zu schreiben bedeutet also, zwei Leben vor sich zu haben. Und wie bei jedem Rückblick geben diese Lebensgeschichten Aufschluss über die Zeit, in der sie gelebt wurden.
Das zweite Leben von Tove Ditlevsen beginnt vor sechs Jahren auf dem Flughafen von Kopenhagen. Es scheint, aus retrospektiver Distanz betrachtet, eher unwahrscheinlich, dass ausgerechnet Michael Favala Goldman zum Defibrillator Ditlevsens werden sollte, denn Goldman, 57 Jahre alt, stammt aus dem US-Bundesstaat Massachusetts und ist eigentlich Tischler.
Goldman erzählt die Geschichte so: Als Teenager hatte er bei einem Schüleraustausch nach Dänemark mitgemacht und sich in die Schwester seines Gastbruders verliebt. Zurück in den USA, schrieb er ihr schmachtvolle Liebesbriefe, zwei Jahre später schmiss er die Schule und ging nach Dänemark. Sie besorgte ihm einen Job auf einer Schweine- und Kartoffelfarm.
Um ihren Vater zu beeindrucken, lernte er Dänisch mit den Büchern aus dem Regal des Schweinebauern. Fünf Jahre später heirateten sie. Sie zogen in die USA, Goldman wurde Handwerker, renovierte Bäder und Küchen, ersetzte Fenster und Türen. Vor etwa 15 Jahren, sagt Goldman, habe er damit begonnen, dänische Lyrik zu übersetzen. Der Bedarf an dänischen Gedichten in den USA war vorhersehbar überschaubar, Goldman hatte einen E-Mail-Verteiler mit nicht ganz 100 Leuten, an die er seine neuesten Übersetzungen schickte. Er renovierte immer noch Badezimmer und ersetzte immer noch Fenster, aber ab und an wurde er ins lokale Radio eingeladen.
Bis zu dem Tag vor sechs Jahren, als er vom Familienbesuch in Kopenhagen zurückfliegen wollte und am Flughafen in eine Bücherkiste griff: »Gift« von Tove Ditlevsen, er hatte von ihr gehört und auch schon irgendwann mal ein Buch von ihr in der Hand gehabt. Er las das Buch und konnte es nicht fassen: Da war kein Fett dran, es war die reine Literatur. So präzise. So lustig und abgründig. So zeitgenössisch. Ein Meisterwerk. Er begann sofort zu übersetzen. Er erhielt ein kleines Stipendium der dänischen Kulturbehörde für die ersten 15 Seiten. Er bot das Exposé verschiedenen Verlagen an, aber niemand meldete sich. Er übersetzte das ganze Buch und bot es zwölf Verlagen an. Niemand meldete sich. Er schrieb an Gyldendal, den dänischen Verlag von Ditlevsen, ob sie ihm nicht weiterhelfen könnten. Gyldendal versuchte zu diesem Zeitpunkt schon seit einigen Jahren, Ditlevsen ans internationale Publikum zu bringen. Das Kalkül: Diese tote Frau aus der Arbeiterklasse war doch genau das, was die großen Verlage suchen, wenn sie ihre Klassikerreihen neu aufstellen wollen. Gyldendal kontaktierte Penguin Randomhouse, einen der größten Verlagskonzerne der Welt. An den habe er gar nicht gedacht, sagt Goldman. Was sollte ein Verlagshaus wie Penguin mit dieser unbekannten Dänin?
»Gift« ist das letzte von drei autobiografischen Büchern, die Ditlevsen gegen Ende ihres Lebens geschrieben hatte. Die ersten beiden waren bereits einmal ins Englische übersetzt worden, allerdings ohne große Resonanz. Penguin packte die drei Bücher zusammen und nannte sie die »Copenhagen Trilogy«. Der letzte Band spielt zwar größtenteils gar nicht mehr in Kopenhagen, aber »Dänemark Trilogie« hätte wohl einen anderen Sound gehabt. Kopenhagen, das heißt: Mid-Century-Möbel und Zimtschnecken, gute Restaurants und Fahrradautobahnen, eine Art Miniatur-Europa-Gefühl für ein internationales Publikum.
»Traurige europäische Mädchen« nennt die britische Kritikerin Lauren Oyler das Genre autobiografisch schreibender Autorinnen wie Annie Ernaux oder eben Ditlevsen, die besonders bei amerikanischen Leserinnen gut ankommen. Die Kopenhagen-Trilogie wurde von der »New York Times« zu einem der zehn besten Bücher des Jahres 2021 gewählt, und von da ging es immer weiter aufwärts. Der Aufbau-Verlag entschied sich, die Trilogie als einzelne kleine Bücher herauszubringen, »Kindheit«, »Jugend« und »Abhängigkeit«. Es folgten der Roman »Gesichter« und der Erzählungsband »Böses Glück«. Das Tove-Fieber hält an, gerade ist eine umfassende Biografie über Ditlevsen erschienen, und es gibt einen Spielfilm.
Die Erfolgsgeschichte dieses zweiten Lebens ist nicht nur diametral entgegengesetzt zum desaströsen ersten Leben von Tove Ditlevsen, sondern lässt sich zum Teil auch daraus erklären. Zynisch könnte man sagen: Je schlimmer jemand zugerichtet wurde, je ungerechter jemand behandelt wurde, desto strahlender erscheint er, wenn ihm posthum Gerechtigkeit widerfährt. Und »Sankt Tove«, wie sie von manchen heute genannt wird, hätte nicht tiefer anfangen können.
Von Virginia Woolf stammt der Anspruch, eine Frau brauche vor allem ein eigenes Zimmer, um schreiben zu können. Tove Ditlevsen hatte nicht einmal eine eigene Schublade, in der sie ihre Gedichte sicher verstauen konnte. Sie wuchs in einer 30-Quadratmeter-Wohnung im Arbeiterstadtteil Versterbro auf, mit ihrer Mutter, zu der sie ein schlechtes Verhältnis hatte, ihrem Vater, einem Heizer, der in ständiger Angst vor Arbeitslosigkeit lebte, sowie ihrem Bruder, der sich über ihre Schriftstellerambitionen lustig machte. Das Familienmotto: Man soll vom Leben nichts erwarten, dann kann man nicht enttäuscht werden.
»Die Kindheit ist lang und schmal wie ein Sarg, aus dem man sich nicht allein befreien kann«, so lautet ein mittlerweile berühmter Satz aus »Kindheit«. Dass Ditlevsen diese Kindheit nie ablegen konnte, bescheinigte einer ihrer zahlreichen Psychiater nach ihrem Tod in einem Zeitungsartikel: Sie habe »nicht mit Bestimmtheit und Nachhaltigkeit eine Barriere gegenüber ihren Erlebnissen in der Vergangenheit aufbauen« können. In dem nur wenige Jahre vor ihrem Tod veröffentlichten Gedicht »Die Zehengängerin« heißt es:
Immer auf Zehen / zu stehen / um durch seine / erwachsenen Augen zu sehen / und sich dieses Hakens / in dem lang gestreckten / Skelett bewusst zu sein / … Das auszuhalten, / was alle Zehengänger wissen / nur ein paar Stunden / auf einmal - / dann findet man / einen abseitigen Winkel / in der Regel ein WC / das sich von innen / abschließen lässt.
Ditlevsens Erwachsenenleben lässt sich schnell und grausam anhand ihrer vier Ehemänner erzählen. Den ersten heiratet sie aus Berechnung. Er ist viel älter, hässlich, aber gibt eine Literaturzeitschrift heraus und veröffentlicht ihr erstes Gedicht. Mit dem zweiten bekommt sie ein Kind, der Mann ist ein Säufer, die nächste Schwangerschaft will sie beenden. Sie verliebt sich in den Mediziner, der die Ausschabung vornimmt, oder vielmehr: in das Schmerzmittel Pethidin, das er ihr gibt.
In dieser dritten Ehe wird Ditlevsen von Schmerzmitteln abhängig, die ihr der psychopathische Ehemann jahrelang verabreicht, um mit der sedierten Frau brutalen Sex zu haben. So schildert sie es in »Abhängigkeit«. Sie nimmt immer weitere Drogen, das Schlafmittel Chloralhydrat, Amphetamin und Ritalin. Sie trennt sich abermals und heiratet einen späteren Boulevardjournalisten, der sie zwar zunächst von den Pillen befreit, nicht aber vom Alkohol. Die beiden betreiben exzessiv Psychotherapie. Die Folge dessen kann man in einem Brief von Ditlevsen an eine Freundin nachlesen, es klingt beinah wie ein böser Sketch: »Wir stehen noch immer am Rande der Scheidung, und wir haben beide einen Psychiater, das heißt, normale Menschen würden in der gleichen Situation einen Rechtsanwalt engagieren. Die beiden Psychiater haben sich wegen uns zerstritten und tauschen wütende Briefe aus, die wir leider nicht zu sehen bekommen. Aber da wir uns gleichzeitig alles erzählen, was die Psychiater über den anderen sagen (also was Victors Psychiater über mich sagt, und meiner über Victor), hat sich daraus eine Art Vierecksdrama entwickelt. Ich denke, es endet damit, dass die Psychopathen zwangseingewiesen werden, und was machen wir dann?«
Es ist die Zeit, in der Ditlevsen das Leben vollends entgleitet. Sie muss mehrmals aus brennenden Betten gerettet werden, weil sie mit einer Zigarette in der Hand eingeschlafen war. In dieser Phase entsteht auch eine ihrer eigenwilligsten Erzählungen, »Die Art und Weise«, in der sie versucht, auf wenigen Seiten das Seelenleben einer psychotischen Frau zu beschreiben. Die Frau sucht Teile ihres zersplitterten Ich, »Schrauben und Muttern«, die ihr Mann versteckt habe. Schließlich giert der Mann nach einer anderen Frau, einer »Löschpapierfrau«, wie er sagt. Wobei nicht klar wird, ob diese Löschpapierfrau nicht vielleicht sie selbst ist. Und was soll das überhaupt bedeuten, Löschpapierfrau? Dazu später.
In den drei autobiografischen Büchern beschreibt Ditlevsen ihr Leben lediglich als eine Abfolge von Ereignissen. Es wäre falsch, diese Ereignisse Schicksalsschläge zu nennen. Denn Ditlevsen sieht sich nicht als jemand, dem etwas passiert. Sie scheint sich allerdings auch nicht als aktive Gestalterin ihres Lebens zu verstehen. Es macht ihren Stil aus und sorgt für diesen eigenwillig betörenden Ton, in dem sie ihr Leben schildert: als würde sie gezogen werden und gleichzeitig springen, als wäre dort das Leben und hier sie und als bliebe es ein großes Geheimnis, wie man von hier nach dort kommt und sich das eine mit dem anderen verbindet. Manchmal, so schrieb sie, »scheuerte die Wirklichkeit wie ein Sandkorn in meinem Auge«. Oder, wie es ihr Biograf Jens Andersen ausdrückt: Sie zog einen unsichtbaren Vorhang zwischen sich und die Umwelt, hinter dem sie verschwinden konnte, wenn die Wirklichkeit zu aufdringlich und gefährlich wurde.
Die Biografie »Tove Ditlevsen – Ihr Leben« von Jens Andersen ist nicht nur interessant, weil man sich jetzt nicht mehr auf ihre eigene Darstellung verlassen muss, wie sie sie in den drei Bänden der Kopenhagen-Trilogie geschildert hat. Sondern weil Andersen so viele Quellen miteinbezieht, die zwar im Dänischen zugänglich, aber noch nicht auf Deutsch übersetzt sind: ihre Briefe, in denen sie ganz anders Auskunft gibt als in ihren Memoiren, auch ihre Kolumnen als »Kummerkastentante« einer Frauenzeitschrift sind mittlerweile herausgegeben in Dänemark, Antworten auf mehr als 4000 Leserinnenbriefe in 20 Jahren. Die Antworten schrieb sie, wie viele ihrer späteren Bücher, in der Psychiatrie, dem einzigen Ort, an dem sie sich konzentrieren konnte. Die Standardeinleitung zur Antwort auf Leserinnenfragen war oft: »Es ist mein trauriges Los, Sie an die Realitäten des Lebens erinnern zu müssen.« Ditlevsen wurde dafür von Feministinnen angefeindet, die in ihr eine Verräterin sahen: weil sie den unglücklichen Hausfrauen stets den Rat gab, doch bei ihrem Ehemann zu bleiben, anstatt ihn zu verlassen.
Andersen zeichnet so das Bild einer Frau, die sicherlich Opfer ihrer Verhältnisse war (arm, Frau im Patriarchat, psychisch krank), aber trotzdem ihr Leben so lebte, wie sie es für richtig hielt. Es ist das Leben einer Schriftstellerin, die sich immer schon für eine der Größten hielt, auch wenn es das dänische literarische Establishment nicht anerkennen wollte. Denn anders als man aufgrund der internationalen Vermarktungsstrategie vielleicht vermuten könnte, war Ditlevsen in Dänemark immer schon sehr erfolgreich gewesen. Ihre Bücher verkauften sich gut, die Leser und vor allem die Leserinnen liebten sie. Nur die Gatekeeper, Professoren und Preisjurys, allen voran die Dänische Akademie, hatten sie ignoriert. Insofern sind das erste und das zweite Leben der Tove Ditlevsen auch eine gute Einführung in Literatursoziologie.
Ihre ersten Bücher wurden von der Kritik noch hoch gelobt. Ab den Sechzigerjahren wurde ihr Schreiben als altmodisch empfunden, die Modernisten übernahmen. Alles andere galt auf einmal als langweilig. Es gab neue Kriterien: experimentell, dissonant, komplex sollte Lyrik sein, sprachlich innovativ. Die Literaturkritik formulierte neue Ideale, und Ditlevsen wollte sich nicht anpassen. Oder konnte es vielleicht nicht. Ditlevsen hatte nicht studiert, ihre drei Hauptbezugspunkte als junge Autorin waren, so sagt es der Literaturwissenschaftler Torben Jelsbak von der Universität Kopenhagen: die Bibel, Grimms Märchen und klassische romantische Poesie des 19. Jahrhunderts. Keine experimentelle Lyrik, keine auseinandergesprengten und wieder zusammengeflickten Wortteppiche. Sondern: Paarreime und Psychologie. Die »Bar-Pianistin der dänischen Lyrik«, wie ein schwedischer Kritiker sie einmal nannte.
Ditlevsen schrieb in ihren Memoirs radikal autobiografisch und in ihren Gedichten und Erzählungen radikal persönlich. Eine ihrer Erzählsammlungen heißt »Flucht vor dem Abwasch«, ein Text darin »Das Wohnzimmer«. Die klaustrophoben zwischenmenschlichen Verhältnisse der Ehe und Familie, das war ihr Thema. Dass ihr Schreiben damals nicht anerkannt war, überrascht nicht. Wobei »damals« noch nicht so lange her ist. Noch 2004 wurde ein offizieller Kanon veröffentlicht, der alle Schriftsteller enthält, die an dänischen Schulen gelehrt werden müssen. Tove Ditlevsen war nicht dabei. Begründung: zu wenig internationales Renommee.
Heute dagegen könnte ihr Schreiben nicht zeitgemäßer sein. Niemand verlangt mehr nach Abstraktion, im Gegenteil, konkret und emotional sind die neuen Währungen sowohl der Literaturvermarktung wie auch der Kritik. Die Neubewertung der Tove Ditlevsen zeigt, wie arbiträr Geschmack ist. Denn auch der neue Zeitgeist kann brutal sein. »Jede Ikone ist dazu da, gestürzt zu werden«, sagt Paprika Steen. Steen ist eine der größten dänischen Schauspielerinnen, die durch die Dogma-Filme von Lars von Trier bekannt wurde. In dem Film »Tove’s Room« spielt sie Ditlevsen als von den Drogen zerstörtes Wrack.
Aber auch als unerträgliche Ehefrau. Es ist ein Kammerspiel – Ditlevsen, ihr vierter Ehemann und ein angehender Schriftsteller. Die Kamera verlässt nie das Wohnzimmer und bleibt bei dem Ehepaar, das sich in unerträglichem Ausmaß seelisch zerfleischt. »Die jungen Feministinnen mögen meinen Film nicht«, sagt Steen. »Weil ich Tove nicht als Opfer darstelle. Sie hat sich immer den Männern ausgeliefert. Aber sie war kein Opfer. Das hätte sie nie gesagt. Sie hat schreckliche Dinge erlebt. Aber sie hatte die Kontrolle über ihr Leben. Und über ihren Tod.«
Als Tove Ditlevsen sich schließlich das Leben nahm, konnte man den Eindruck haben, hier hatte jemand keine Wahl. Wie hätte es auch anders ausgehen können? In einem Nachruf heißt es: »Ihr Tod ist ein großer Verlust für die dänische Literatur, und man muss sich darüber wundern, dass man dieser genialen Frau nie den Großen Preis der Akademie verliehen hat oder sie Mitglied der illustren Versammlung wurde.«
Ihr Mann wird zitiert, mit liebevollen Worten: »Die Rührung hat mich in einem Maße übermannt, dass es mir schwerfällt, Worte zu finden. Ich will nur in aller Kürze sagen, dass dieser Schicksalsschlag mich vollkommen aus der Bahn geworfen hat.« Es ist ein eigenwilliger Nachruf, der keinen Hehl daraus macht, wie schwer es für Ditlevsen gewesen sein muss, dass ihr die höchste dänische Literaturauszeichnung, der Preis der Akademie, verwehrt blieb. Es ist auch eine eigenwillige Interpretation ihres Selbstmords: nicht als Schicksalsschlag für sie selbst, der ihr Leben beendet, sondern für den Ehemann. Als wäre Ditlevsens Leben, von Anfang bis Ende, eher für die anderen unausweichlich gewesen, nicht für sie.
Geschrieben wurde dieser Nachruf allerdings von einer Frau, die ebenfalls einiges durchgemacht hat. Von einer Frau, die das Leben zwar von Kindesbeinen vom Ende her betrachtete, es aber trotzdem in Freiheit lebte. Die auch viermal verheiratet war und drei Kinder hatte, von einer Frau, die ebenfalls tablettensüchtig war und 4000 Briefe von verzweifelten Hausfrauen erhalten hat. Von einer, die das Überschüssige des Lebens aufsaugte, um selbst zerknüllt und weggeworfen zu werden. Von einer Löschpapierfrau. Die Autorin des Nachrufs ist Tove Ditlevsen selbst, sie schrieb ihn vier Jahre vor ihrem Tod.
»Da war kein Fett dran, es war die reine Literatur. So präzise. So abgründig.«
Michael Favala Goldman, Übersetzer
»Tove hat sich immer den Männern ausgeliefert. Aber sie war kein Opfer.«
Paprika Steen, Schauspielerin
Darstellerin Steen als Ditlevsen in »Tove’s Room«: »Kontrolle über ihr Leben und über ihren Tod«
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