17. August 1996 | Süddeutsche Zeitung | Porträt | Marcel Carné

Kind des Olymp

Marcel Carné wird 90 - oder so

Wann er wirklich geboren ist, war lange Zeit umstritten. Sicher ist jedoch, daß es lange genug her ist, um die meisten Leute in Staunen zu versetzen, wenn sie erfahren, daß Marcel Carné noch lebt. Das hat nichts damit zu tun, daß der Mann vergessen worden wäre, man kann daran vielmehr sehen, wie tief seine Filme in unserem Gedächtnis verwurzelt sind. Man muß nur ein paar Titel nennen, und schon hat man ein Bild des französischen Kinos vor Kriegsbeginn und während des Krieges vor Augen: Kinder des Olymp, Hafen im Nebel, Hotel du Nord, Der Tag bricht an, Die Nacht mit dem Teufel, Pforten der Nacht. Das sind fast alles Klassiker des Weltkinos, und deren Schöpfer traut man kaum diese Lebendigkeit zu, die Marcel Carné noch vor ein paar Jahren bei der Felix-Verleihung an den Tag gelegt hat.

Carnés Anteil am Erfolg dieser Film wurde diskutiert, weil er ohne seine feste Truppe von Mitarbeitern nie so überzeugend war. Andererseits waren auch seine Mitarbeiter ohne ihn nur selten so gut wie zu ihrer gemeinsamen Zeit. Was vor allem sein Drehbuchautor Jacques Prévert oder sein Bühnenbildner Alexandre Trauner für und mit Carné geschaffen haben, hat unsere Sehnsucht nach diesem Frankreich des Herzens geprägt. Das einsame Haus mit der Dubonnet-Werbung an der Brandmauer, in dem sich Jean Gabin in Le jour se lève verschanzt hat; die Brücke, die über den Kanal zum Hôtel du Nord führt, wo sich das Liebespaar umbringen will; der neblige Hafen von Le Havre – das sind alles Bühnen für unsere Träume, die nach Pastis und Gauloises riechen, in denen das Akkordeon klingt und der Nebel das Kopfsteinpflaster feucht glänzen läßt.

Poetischer Realismus nennt man das, weil sich da die Wirklichkeit zur Poesie verdichtet, besser aber umgekehrt: weil dort die Poesie ein Gesicht und eine Wahrheit bekommt, wie sie die Wirklichkeit selbst nicht besitzt. Wie man die Dekors zum Sprechen bringt, hat Carné beim deutschen Expressionismus gelernt; wie man die Verhältnisse zum Tanzen bringt, in den Music-Halls seiner Jugend. Der Rest mag viel dem Theater verdanken, aber es ist das Kino, wo dies alles sich in Geschichten zusammenfand, in denen die Liebenden immer Verlorene sind und die Hoffnung oft nur ein Wort ist.
Carné selbst hat es so gesagt: ‚Ich bin kein Pessimist und bin auch nicht unbedingt verrückt nach dem Film Noir. Aber da Filme immer auch ein Spiegelbild der Wirklichkeit sind, kann man sagen, daß die Vorkriegszeit nicht gerade eine optimistische Epoche war. Eine Welt war am Verschwinden, und wir hatten ein vages Bewußtsein davon. Für meine Figuren gab es dabei immer auch Augenblicke des Glücks. Ein Augenblick, das ist schon eine ganze Menge.‘ Noch ein paar Augenblicke mehr mag man Marcel Carné zu seinem Neunzigsten wünschen. Schön zu wissen, daß es noch lebendige Klassiker gibt.
MICHAEL ALTHEN

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