20. Juni 2000 | Süddeutsche Zeitung | Porträt | Jean-Luc Godard

Ich weiß, woran du denkst

Ein Gespräch mit Jean-Luc Godard über seinen neuen Film und seine Filmgeschichte zum Hören

Um es gleichmal vorwegzunehmen: Für Leute, die das Kino lieben, ist Jean-Luc Godard so etwas wie ein Gott. Das ist mit den Jahren vielleicht ein wenig in Vergessenheit geraten, aber für den Film als Kunstform bedeutet der Mann so viel wie Picasso für die Malerei. Nur ist beim Kinopublikum irgendwann die Bereitschaft geschwunden, den großen Meistern auf ihrem Weg zu folgen. Wo sich jeder durchschnittlich interessierte Kunstliebhaber bereitwillig mit den allerabstraktesten Kunstanstrengungen auseinandersetzt und um Verständnis ringt, da können im Kino die Bemühungen, sich vom Diktat des Geschichtenerzählens zu lösen, schon lange nicht mehr mit der Geduld der Zuschauer rechnen. Der ultimative Sieg Hollywoods besteht deswegen nicht darin, immer größere Zuschauermassen auf seine Seite zu bringen, sondern darin, auch die sogenannten Intellektuellen davon zu überzeugen, es sei wichtiger, bei TITANIC mitreden zu können, als den neuen Godard gesehen zu haben. Von seinen letzten fünf Filmen kam nur einer bei uns ins Kino: NOUVELLE VAGUE – ohne Erfolg.

Godard hat schon immer gesagt, die wahre Filmgeschichte könne nur als Film erzählt werden. Und so hat er sich in den letzten zehn Jahren an seinem Schneidetisch seinen Reim aufs Kino gemacht: HISTOIRE(S) DU CINÉMA hat er das Unternehmen genannt, Geschichte(n) des Kinos. Vier jeweils zweiteilige Kapitel sind es geworden, die ganz verstreut, mal auf Festivals, mal im Fernsehen zu sehen waren. Und es sagt schon einiges, dass ein Musikproduzent, der Münchner Manfred Eicher kommen musste, um daraus eine Schmuck-Kassette zu machen, in der die Texte und Töne in vier Büchern mit CDs versammelt sind. Das ist eine jener wunderbaren Unternehmungen, die das Kino eigentlich gar nicht verdient hat, weil es selbst nicht mehr in der Lage ist, sich seiner Geschichte zu vergewissern.

In den Büchern sind die Texte dreisprachig, französisch, englisch, deutsch, abgedruckt und mit Prints aus den Filmen versehen. Man muss sich der Sache wie Gedichten nähern, Zeile für Zeile, sich tragen lassen, zurückblättern, nochmal lesen, die Worte auf der Zunge zergehen lassen. Und dazu die CDs hören, auf denen Godard mit ein paar ausgewählten Schauspielern von seinem Olymp herabzuraunen scheint, eine Sinfonie aus Zitaten, Tönen und Soundtracks. Und es ist, als würde das Kino selbst zu uns sprechen, ein Bruder aller anderen Künste, im freundlichen Zwiegespräch mit der Malerei, der Literatur, der Musik. Manchmal möchte man fast meinen, hier versuche jemand, mit der Netzhaut zu denken. „Une forme, qui pense”, heißt es einmal: Tatsächlich bringt Godard hier scheinbar die Formen selbst zum Denken – und obwohl die Bilder fehlen, hat man den Eindruck, beim Lesen und Hören würden die dunklen Kammern der Erinnerung belichtet.

Wenn man Godard dann gegenüber tritt, ist das so wie für andere Leute, wenn sie eine Audienz beim Papst haben. Er hat einen neuen Film gedreht, der noch nicht fertig ist, über den er aber reden will. Am Abend vorher bekommt man ein Presseheft ins Hotel gebracht, ein paar Seiten Inhaltsbeschreibung, den Titel „Eloge de l’amour” und die Mitteilung, Fotos bekäme man am nächsten Morgen vor dem Interview zu Gesicht. Ein Lob der Liebe also, drei Paare und ein Regisseur, der einen Film zu machen versucht über die vier Stufen der Liebe, Begegnung, Leidenschaft, Trennung und Wiedervereinigung, erzählt in zwei Zeitebenen, auf 35mm und Video, und es geht um Reich und Arm, Alt und Jung, Hollywood und Europa – und um alles, was dazwischen liegt.
Was für eine aparte Art, sich einem Film zu nähern. Erst der Titel, dann etwas von Inhalt, ein paar Dialoge, später Fotos und schließlich ein paar Worte vom Meister selbst, nur nach vorheriger Versicherung, dass man ausschließlich Fragen zum neuen Projekt stellt. So nimmt der Film schon langsam Form an, ehe er im Herbst auf dem Festival in Tokio Premiere hat. Auch das ist Kino: Verheißung, Versprechen, Vorfreude.

Wenn man dann ins Pariser Produktionsbüro kommt, etwas abseits des Etoile, ist Godard nicht halb so päpstlich, wie es die Präliminarien erwarten ließen. Er raucht eine Zigarre – wie üblich, ist unrasiert – wie üblich, und spricht in Rätseln – wie üblich. Aber ist durchaus nicht ungeneigt, auch über andere Dinge als seinen neuen Film zu reden. Natürlich gerne auch über Manfred Eicher.

Ein besonderes Verhältnis bestünde zwischen ihnen, allein dadurch, dass Eicher Godard die Platten zuschickt, die er auf seinem Label ECM Music veröffentlicht: „Jedesmal, wenn er uns Musik schickt, hat man den Eindruck, das ist jemand, der uns was zu hören gibt, einen Ton von einem Ort, der aus der selben Familie stammt wie der Ort, zu dem man gehen soll. Er ist in einer Welt, die nicht die gleiche ist wie unsere, aber mit unserer befreundet ist. Und er sagt mit seiner Musik, besteht fort, arbeitet weiter. ” Schon lange ist die Rede von einem Film über diese Beziehung, der „ECM Music” heißen soll. Und zur näheren Beschreibung, worum es dabei gehen soll, sagt Godard auf deutsch: „Über die Musik – oder unter der Musik. ”

So ist er, so redet er, und dann zieht er wieder an seiner Zigarre und hüllt sich in Rauch. In seinen HISTOIRE(S) klingt das dann (in der Übertragung von Hanns Zischler) so: „Manchmal am Abend flüstert jemand/ in meinem Zimmer/ ich schalte den Fernseher aus/ aber das Flüstern hört nicht auf/ ist es der Wind/ oder sind es meine Vorfahren/ Geschichte der Einsamkeit/ Einsamkeit der Geschichte. ” So spricht das Kino zu ihm, aus einer Allgegenwart heraus, in der alles zum Film wird – und Film alles ist.

Es war die Nouvelle Vague, die einst davon geträumt hat, Filme mit jener Leichtigkeit machen zu können, mit der man auch einen Füller benützt. Ist das Kino denn diesem Traum durch die Erfindung der kleinen Digitalkameras näher gekommen, mit denen auch Godard jetzt gedreht hat?

„Das hieße ja, dass man nicht mehr an die Kamera zu denken braucht. Aber nachdem wir einen Kameramann und einen Assistenten dabeihatten, war es doch wieder dasselbe. Es war nicht so, dass ich alleine mit den Schauspielern arbeiten konnte. Es reicht schon, einen Assistenten dabei zu haben, der fragt: „Und was machen wir morgen?” Da wäre es besser, überhaupt nichts zu sagen. Es ist so, wie wenn man ein Liebesverhältnis hat und einen Assistenten, der sagt: ,Und wo siehst Du sie morgen?‘ Dann wird das Ganze organisiert. Und wenn die Kamera aufgestellt wird, ist es egal, ob sie klein oder groß ist – sie ist da. Die Intimität der Liebesbeziehung ist verloren. ”

SZ: Ist die Beziehung zum Kino denn immer noch eine Liebesbeziehung?
Godard: Ja. Liebe zur Wahrheit.
SZ: Was halten Sie in dem Zusammenhang von den Dänen und ihrem Dogma?
Godard: Ich mag Dogmen an sich nicht. Das ist eine Art der Werbung für sich selbst. Lars von Trier dreht gerade ein Musical mit 200 Kameras. Cassavetes’ Dogma war, Filme in der Familie zu machen. Es gibt gute und schlechte Arten, Dogma zu machen. Mir haben DIE IDIOTEN gefallen und die anderen gar nicht.
SZ: War das nicht auch eine Art Dogma, als sie in der Nouvelle Vague postulierten, Papas Kino sei tot?
Godard: Die Nouvelle Vague war eine Reaktion. Wir haben nicht gesagt, Papas Kino ist tot, das waren die Kritiker und Journalisten. Aber das war tatsächlich eine Zeit, wo das Kino ein sehr hermetischer Zirkel war, in dem es strenge ästhetische und gesellschaftliche Verbote gab. Darauf haben wir reagiert und das Recht gefordert, auf der Straße zu filmen, das Recht, es so zu machen, wie wir wollen.
SZ: Auch das Recht einer bestimmten Blickweise aufs amerikanische Kino?
Eine gewisse Art haben wir verteidigt. Bei bestimmten Filmen hatten wir den Eindruck, dass der Regisseur nicht einfach nur ein Angestellter des Studios war.
Wäre es denn denkbar, dass heute eine Regisseursgeneration sich durch einen neuen Blick auf alte Filme definiert?
Die Cinémathèque ist nicht mehr eine Produktionsstätte, wie sie es früher war. Da wurden Ideen, nicht Filme produziert. Das war eine Widerstandsbewegung, heute ist das ein Museum. Man sagt, ein fünf Jahre alter Film ist ein alter Film. Aber bei DON QUIOTE käme man auch nicht auf die Idee, das als altes Buch zu bezeichnen.
SZ: Sie zitieren in Ihren Filme gerne Bücher. Sind das am Ende alles gefundene Sätze?
Ja, ich greife mein Gut da auf, wo ich es finde. Wenn ich auf der Straße drehe, ist das für mich auch ein Zitat. Ich habe die Champs-Elysées ja schließlich nicht erfunden. Und das gilt auch für die Sätze, die Dinge, die Bilder eigentlich auch. Und manchmal passiert es mir, dass die wenigen Freunde, die ich habe, nicht etwa sagen: „Jean-Luc, dieser Satz ist aber schön!”, sondern nur noch fragen: „Woher hast du das, Jean-Luc?” Als sei es gar nicht mehr möglich, dass ich solche Sätze selbst erfinde.
SZ: Lesen Sie die Bücher denn von Anfang bis Ende?
In dem Moment, wo ich eine Idee für ein Projekt habe, mache ich ein Eselsohr in die Seite, und manchmal gucke ich sechs Monate später wieder in das Buch und frage mich, warum habe ich dieses Eselsohr gemacht, und manchmal fällt mir wieder ein, warum, und manchmal nicht.

So ist es auch in seinen HISTOIRE(S) – man kann kaum mehr unterscheiden, was Godard selbst erfunden hat und was er lediglich gefunden hat. Es macht auch keinen Unterschied. Er bringt die Bilder zum Sprechen – und was sie erzählen, geht über die Geschichten hinaus und verwandelt sich in Geschichte. Wie er da so in dunkler Silhouette vor seinem Schneidetisch sitzt und sich seine schweizerisch nasale Stimme vor die anderen Töne legt, könnte man beinahe glauben, er spiele mit der Filmgeschichte wie ein Musiker auf seinem Instrument. Er entlockt ihr Töne, von denen das Kino selbst bislang kaum zu träumen wagte. Und tatsächlich ist das die Geschichte einer Einsamkeit.

Welche Position, fragt man ihn dann, nehmen Sie im französischen Kino ein? Und was er antwortet, ist so verdammt traurig, dass man kaum mehr ans Kino glauben mag: „Ich bin geworden, was ich war, als ich anfing mich für Kino zu interessieren. Ich bin ein Nichts, das man in den Rinnstein wirft. Ich stehe nicht mal mehr am Rande. ” Und ist er nicht enttäuscht über das, was mit dem Kino passiert ist? „Ja, aber gleichzeitig ist das die Geschichte. Und ich mag die Geschichte der großen Bewegungen. Man kann ja auch nicht sagen, es sei enttäuschend, dass Leonardo oder Raffael gestorben sind. ” Jean-Luc Godard, so viel steht fest, gehört einer anderen Ordnung an, sein Kino ist anderen Filmen stets einen Schritt voraus, nein, zwei Schritte. Selbst da, wo es ohne die Bilder auskommen muss wie in Eichers Edition.

„Ich weiß, woran du denkst”, steht in den HISTOIRE(S) über den Frauenporträts von Goya, Manet und den anderen. Das ist der ewige Lockruf der Kunst, kostbare Illusion und schöne Lüge zugleich: „Je sais à quoi tu pense. ” Das ist es, was nur große Kunst vermag – Godards Filme zum Beispiel. LOB DER LIEBE wird es zeigen.

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