13. Oktober 2003 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Augenlied

Böse Augen haben keine Lider

Ein Dokumentarfilm über Blinde

Die Blinden, hat mal jemand gesagt, seien so etwas wie die Heiligen des Kinos. Ob das stimmt oder nicht, so begegnet ihnen die Kamera doch stets mit einer gewissen Ehrfurcht, schon der bloßen Vorstellung wegen, die Blinden könnten womöglich Dinge sehen, die filmischen Apparaturen verborgen bleiben. Die Dokumentarfilmer Mischka Popp und Thomas Bergmann waren klug genug, diese Vermutung in AUGENLIED nicht als große Erkenntnis zu zelebrieren, sondern haben einfach versucht, sich von den Blinden an der Hand nehmen und durch die Dunkelheit führen zu lassen.

Dafür haben die beiden gerade den Hessischen Kulturpreis bekommen, wie schon ihr Vorgänger KOPFLEUCHTEN, der Menschen mit Defekten des Gehirns auf die Spur zu kommen suchte. Man sieht also lauter Blinde: einen Achtzigjährigen beim Schlittschuhfahren, einen englischen Philosophieprofessor, eine spanische Nachrichtensprecherin, drei polnische Musiker, eine türkische Mutter, einen russischen Drucker, einen Theaterschauspieler und drei Schulkinder, alle blind und vor allem darin einig, daß Blindheit nicht unbedingt das Gegenteil von Sehen bedeutet. Wenn die Türkin mitten in Frankfurt davon redet, sie rieche den Wind vom Meer, dann ahnt man, daß das Sichtbare manchmal auch ein Käfig sein kann. Popp und Bergmann geben trotzdem der Versuchung nach, das Unsichtbare zu bebildern oder uns wenigstens für das zu sensibilisieren, was jenseits des Gesichtssinns liegen mag. So münden die Gespräche immer wieder in stimmungsvolle Bilder von Landschaften und Wolken, vom Wind auf dem Wasser und in den Bäumen, von Naturschönheit und Stadtgewirr, aber natürlich hält das nie Schritt mit der Vorstellung von den imaginären Räumen der Blinden. Man könnte zugunsten der Regisseure sagen, es schärft den Blick der Sehenden für ihre Möglichkeiten.

Worum es geht, schildert am besten der beredte John Hull, der wie ein Erzähler durchs Dunkel führt. Als er auf einer Party war, sagte ein Freund zu ihm, schade, daß er seine Frau nicht sehen könne, sie sei so hübsch an diesem Abend. Und weil er es gut meinte, beglückwünschte er Hull dazu, daß er seine Frau immer jung in Erinnerung behalten könne, nie ihre ersten Falten oder grauen Haare sehen müsse. Abgesehen davon, daß ja gerade darin auch ein großes Glück liegen könnte, erkannte Hull in diesem Moment, daß gerade im krampfhaften Versuch, an solchen Bildern festzuhalten, die große Gefahr für seine Beziehung und sein Leben als Blinder liegt und daß er sich von den Erinnerungen und der sehenden Welt abwenden muß, wenn er weiter am Leben teilhaben will. Und auch, wenn wir hinterher immer noch nicht wissen, wie viel die Blinden sehen, ahnen wir doch, wie wenig wir selbst sehen. So gehen uns im Kino vielleicht die Augen auf.