Michael-Althen-Preis 2015 - der preisgekrönte Text
"Bitte nix mixen!" von Prof. Dr. Rupprecht Podszun
Streit ums Urheberrecht – Beobachtungen vom Prozess des Suhrkamp-Verlags gegen das Münchner Residenztheater wegen Frank Castorfs "Baal"-Inszenierung.
Autor: Rupprecht Podszun
Erschienen am 19. 02. 2015 auf nachtkritik.de
http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=10584:streit-ums-urheberrecht-beobachtungen-vom-prozess-des-suhrkamp-verlags-gegen-das-residenztheater-wegen-frank-castorfs-qbaalq-inszenierung&catid=101:debatte&Itemid=84
München, 18. Februar 2015. Nach gut zweieinhalb Stunden, als diese Verhandlung am Landgericht München I sich langsam der Dauer von Frank Castorfs „Baal“-Inszenierung am Residenztheater (vier Stunden) näherte, drohte das Ganze doch in die Farce abzugleiten. Es war der Zeitpunkt, als der Vorsitzende Richter Andreas Müller dazu überging zu prüfen, ob der Suhrkamp-Verlag überhaupt die Nutzungsrechte an den Brecht-Stücken hat. Der Verlags-Justiziarin steht der Unglaube ins Gesicht geschrieben: Sie war heute gekommen, um dem Residenztheater die „Baal“-Aufführung untersagen zu lassen, weil Frank Castorf in den Brecht-Text reichlich Fremdmaterial gemischt hat. In seiner „Baal“-Inszenierung ist nicht erkennbar, was von Brecht ist, was von Rimbaud und was von so zwielichtigen Autoren wie Carl Schmitt oder Ernst Jünger. Für einen solchen Text-Mix hatte das Residenztheater keine Autorisierung, so schien es.
Wenn der Wachtmeister klingelt
Doch jetzt, um 16.30 Uhr, sieht es eher so aus, als säße an diesem Tag Suhrkamp auf der Anklagebank. Dem Publikum stockt der Atem. Da platzt in die Verhandlung der Buffone. Ein Wachtmeister reißt die Tür zum Sitzungssaal auf, er ist kompakt gebaut, stapft wie selbstverständlich herein und schnarrt mit bayerischer Färbung: „Ist die Frau Sich do?“ Sie ist da. Es ist die besagte Suhrkamp-Justiziarin, sie sitzt vorne, nah am Richtertisch, und so stapft der Wachtmeister weiter, wedelt mit einem Telefax. Es ist ein erlösendes Dokument zur Erbfolge Bertolt Brechts, das bei Suhrkamp in beeindruckender Geschwindigkeit aus dem Archiv gefischt und aufs Fax gelegt wurde, und jetzt bringt es der Wachtmeister persönlich in den 6. Stock dieses 50er-Jahre-Baus und legt es der Justiziarin Verena Sich auf den Tisch. Wachtmeister: „Die Wachtmeister-Kasse hat auch oan Sparschwein.“ Ab. Man möchte diesem Auftritt applaudieren. Danach aber fällt die Handlung ab, und aus einem spannenden Prozess wird quälender Stillstand.
Dabei war es eine starke Eröffnung. Stühle waren eigens herangeschafft worden, damit Helmut Markwort vom „Fokus“, Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung und Resi-Fans Platz finden. Richter Andreas Müller, der Oberspielleiter und Hauptdarsteller dieses Verfahrens, hatte die Sache Suhrkamp Verlag AG gegen Bayerisches Staatsschauspiel, Aktenzeichen 21 O 1686/15, mit einer analytisch beeindruckenden Zusammenfassung des Falles begonnen. Wenn das Residenztheater Brecht spielen will, braucht es dazu eine Lizenz des Verlags, der Brecht vertritt. Im Vertrag, den Suhrkamp und Residenztheater geschlossen haben, ist festgelegt, dass Änderungen des Texts der vorherigen Zustimmung des Verlages bedürfen, es sei denn dass der Verlag seine Zustimmung nach den Grundsätzen von Treu und Glauben nicht versagen darf. Minutiös schilderte Müller, wie die Residenztheaterdramaturgen, aber auch der Suhrkamp-Verlag sehenden Auges Richtung Katastrophe rasten.
Und nicht uninteressant war es, einmal von einem Gericht erklärt zu bekommen, wie eine solche Castorf-Produktion entsteht. Am 15.9.2014 besucht Sebastian Huber, leitender Dramaturg am Resi, den Regisseur Castorf. Huber erzählt, dass Aleksandar Denić ein Vietnam-Bühnenbild entworfen hat. Castorf ziert sich. Macht er einen Vietnam-Baal? Braucht er dazu Texte von Rimbaud? Huber verlässt Castorf und fährt zur Schaubühne, um dort eine Thomas-Bernhard-Premiere zu sehen.
Rechte-Vereinbarungen beim Plausch im Schaubühnen-Foyer?
Was jetzt geschieht, hören die Anwesenden in Saal 601 an diesem Tag viele Male aus verschiedenen Perspektiven. Vor der Schaubühne sitzt nämlich zufällig Frank Kroll, er leitet bei Suhrkamp die Theaterabteilung. Man kennt sich, man duzt sich. Kroll schaut auch den Bernhard. Er ist mit dem Dramatiker Oliver Schmaering da. Huber: „Ich wollte dich ohnehin noch anrufen, wegen Baal.“ Kroll stellt Schmaering vor, der vertieft sich in sein Smartphone, Huber setzt sich kurz dazu. Huber erzählt von der Vietnam-Idee. Der Name Rimbaud fällt. Frau Brecht-Schall mag Castorf. Vielleicht. Angela Obst wird das Stück am Resi betreuen. Kroll kennt sie noch vom Henschel-Verlag.
Nach fünf Minuten, vielleicht waren es zehn, geht Huber ins Theater. Um 20:02 Uhr schreibt er eine SMS an Frank Castorf, da sitzt Huber schon im Theatersaal, bald geht es los. Huber schreibt: „Lieber Frank, habe gerade Frank Kroll von Suhrkamp an der Schaubühne getroffen. Er muss keine Fassung sehen, will aber von Angela auf dem Laufenden gehalten werden. Die zwei kennen sich noch von Henschel.“ Hat Huber da etwas überinterpretiert? Frank Kroll versichert an Eides Statt und sagt später auch im Zeugenstand: „Ich räume doch nicht in diesem Umfeld in einem kurzen Gespräch die Rechte an Brecht so einfach ein.“ An Brecht! Wo doch jeder weiß, dass die Brecht-Tochter Barbara Brecht-Schall eigenwillige Vorstellungen hat. Gab es im Gespräch vor der Schaubühne eine Vereinbarung? Was sagt Oliver Schmaering dazu, er saß doch dabei? Er ist auch jetzt da, wartet geduldig vor dem Gerichtssaal, doch er wird als Zeuge nicht gehört. Er hat an Eides Statt versichert, er habe sich in sein Smartphone vertieft und der Konversation nicht weiter zugehört. Ersteres zumindest ist glaubhaft: Als sich am Ende Saal 601 leert, sitzt Oliver Schmaering immer noch vor dem Saal – in sein Smartphone vertieft.
Zehn Prozent sind besser als zwanzig
Nach dem Zufallstreffen an der Schaubühne trifft man sich am 14.11.2014 bei einer „Peer Gynt“-Premiere in München. Die Resi-Dramaturgen wissen noch nicht, wohin die Reise mit Castorf geht. Der weiß es offenbar auch noch nicht. „Bitte nix mixen“, ist die Ansage des Verlags, „die Werkeinheit bewahren“. Am 6.1.2015 ruft Angela Obst bei Frank Kroll an und erklärt ihm, dass man derzeit bei den Proben mit Texten von Rimbaud und anderen arbeite. Was man bei der Premiere zehn Tage später tatsächlich verwende, sei noch offen. Als Obst auch Carl Schmitt und Ernst Jünger erwähnt, sagt Kroll offenbar: „Das habe ich jetzt nicht gehört.“ 20 Prozent im Textbuch sollen von Rimbaud sein. Am nächsten Tag korrigiert Obst, nachdem ihre Hospitantin Zeilen gezählt hat. Es sind nur 10 Prozent. „Das klingt schon erfreulicher“, tippt Kroll zurück. Sonstige Fremdtexte: Schweigen.
Am 15.1.2015 ist „Baal“-Premiere. Kroll fährt hin. Er hört viel Brecht, aber auch vieles anderes. Richter Müller macht unmissverständlich klar, dass er in diesem Hin und Her keine Zustimmung von Suhrkamp erkennen kann, und bei derart erheblichen Eingriffen in den Text konnte von Suhrkamp wohl auch nicht nach Treu und Glauben eine Zustimmung erwartet werden. „Das ist eine teure Inszenierung!“, jammert Resi-Rechtsanwalt Jörg Thomas. Doch auf die Idee, bei einer solchen Investition die Rechtslage sorgfältig abzuklären, ist im Residenztheater wohl niemand gekommen. Bei Suhrkamp zog freilich auch niemand die Notbremse, aber Suhrkamp war auch nicht am Zug.
So stellt der Richter die Auffassung seiner Kammer dar, und dann kommt die plötzliche Wendung, eine Art Peripetie. Müller bittet Suhrkamp inständig um Zustimmung zu einem Vergleich: „Baal“ noch einige Male bis Ende März am Resi, dann beim Theatertreffen in Berlin im Mai, jeweils in der Castorfschen Mix-Fassung, Kosten des Rechtsstreits trägt das Resi. Rechtsanwalt Ronald Schmidt, der für Suhrkamp auftritt, er ist hager, wirkt intellektuell und sehr beschlagen im Urheberrecht, schaut nachdenklich über den Rand seiner Brille: „Bei einer solchen Einigung hätten wir den Antrag ja gar nicht stellen brauchen.“
Suhrkamp scheut den Vergleich
Die Situation ist paradox: Der Richter hat klar gemacht, dass ein Urteil zu Suhrkamps Gunsten ausgehen würde, aber er will dieses Urteil nicht. Also rät er Suhrkamp zum Vergleich, obwohl Suhrkamp nichts zu verlieren hat. Diese Strategie geht nicht auf. Und jetzt wird es ungemütlich. Denn aus der sympathischen Bitte des Richters um eine kunstfreundliche Geste des Verlags wird ein unangenehm deutliches Drängen. Als Suhrkamp sich – trotz Rückfragen bei der Geschäftsleitung in Berlin – nicht zu Zugeständnissen durchringen kann, zieht der Richter andere Saiten auf. Er beginnt mit der einigermaßen absurden Prüfung der Rechte des Suhrkamp-Verlags. Suhrkamp kämpft. Vorgelegt wird ein Vertrag mit den Brecht-Erben. Da setzt sogar Resi-Verwaltungschef Holger von Berg einmal die Lesebrille auf, um zu schauen, wer da 1963 unterschrieben hat. Helene Weigel und Siegfried Unseld etwa? Stehen auf den Schultern von Riesen.
Der traurige Teil des Dramas ist schnell erzählt, auch wenn er sich so langatmig gestaltete wie die Apocalypse Now-Sequenz in Castorfs „Baal“: Sebastian Huber, Frank Kroll und Angela Obst werden als Zeugen vernommen. Die drei Zeugen erzählen ihre Versionen der Geschichte, die sich kaum widersprechen, aber um die ein Gewese gemacht wird, als läge darin noch der Schlüssel zu diesem verkorksten Verfahren. Zeugenvernehmungen bei Gericht können brutal sein. Es lacht keiner im Saal. Es ist auch gar nicht komisch, wie das abläuft, sondern nur quälend: Jeder Satz wird protokolliert, man ringt um Formulierungen. Heute ist der Tag der Juristen, Richter Müller und seine schweigsamen Beisitzer, die Anwälte, sie machen den Ton dieses Stücks. Das fällt ihnen umso leichter als die beiden Großmächte des Streits fehlen: Barbara Brecht-Schall und Frank Castorf sind nicht im Saal. „Stellvertreterkrieg“ hätte man das zu Vietnam-Zeiten genannt.
Vorgelesen und genehmigt
Als die Anwälte zum letzten Mal ihre Schlachten geschlagen haben, notiert Richter Müller für das Protokoll: „Die Parteien tauschen die Argumente erneut erschöpfend aus.“ Befreite Heiterkeit. Doch was nun? Der Tag hat Suhrkamp demütig gemacht. Frau Sich teilt mit, man sei bereit, sich zu einigen. Einmal noch, bis Ende März, dieser „Baal“ in München. Einmal dann beim Theatertreffen. Das Residenztheater gibt eine Unterlassungserklärung ab, dass es zu weiteren Aufführungen nicht komme. Suhrkamp steht es frei, vor den beiden Aufführungen eine kurze Erklärung verlesen zu lassen. Die Kosten des Rechtsstreits trägt das Theater. Der Richter, der das Verfahren betreut hat, Kuttenkeuler heißt er, sieht die Vertreter des Residenztheaters durchdringend an. Sie müssen jetzt zustimmen. Sie sträuben sich. Noch einmal blickt Kuttenkeuler sehr streng. Unterbrechung. Dann: Zustimmung.
Die Schreibkraft der Zivilkammer liest den Vergleich, das Ergebnis der sechseinhalbstündigen Sitzung, mit starker, schöner Stimme vor. Es ist fast ein magischer Moment, so als würde der reitende Bote aus der „Dreigroschenoper“ erscheinen. Gerettet, gerettet, möchte man rufen, aber Richter Müller sagt nur: „Vorgelesen und genehmigt“, und er schließt die Sitzung. Kein Applaus.
Was bleibt?
Erstens: eine passable Entscheidung. Mehr war für die Freiheit der Kunst nicht rauszuholen. Sicher, für das Regietheater wäre es schöner, es hätte diesen Vergleich nie gegeben. Doch andererseits: Wer will schon, dass seine Texte mit Texten eines Nazi-Juristen wie Carl Schmitt gemischt werden, ohne dass deutlich wird, was von wem ist? Da hatte die zur bösen Erbin stilisierte Barbara Brecht-Schall einen Punkt. Pervers ist nicht, dass sie sich entscheidet, ihr Recht durchzusetzen. So sind Menschen, sie treffen manchmal Entscheidungen, mit denen man nicht glücklich ist. Pervers ist, dass dieses Recht den Erben der Urheber bis zu siebzig Jahre nach deren Tod zusteht. Das ist in der Kunstwelt eine halbe Ewigkeit, und diese halbe Ewigkeit dauert im Fall Brecht noch bis 2026. Dass die Schutzdauer des Urheberrechts so lang läuft, kommt nicht nur einzelnen Erben, sondern vor allem der US-Kulturindustrie entgegen. Die Walt Disney Company etwa lobbyiert intensiv, um möglichst nie die Mickey-Mouse-Rechte zu verlieren.
Zweitens: Mit einem wie Castorf könnten Urheberrechtler kurzen Prozess machen. Es ist das große Verdienst von Richter Müller und seinen Beisitzern, dass sie sich die Zeit nahmen, um mit Sachverstand die Wildheit des Theaterbetriebs mit der Formenstrenge der Juristen zu versöhnen. Das Urheberrechtsgesetz aber, dieses fünfzig Jahre alte Opus, ist geschaffen für eine prä-digitale Welt, für die Welt vor der Postmoderne. Nur mit Ächzen kann es auf Streaming, auf Mashups, auf Software angewendet werden – und auf Regisseure, die erst bei der Premiere sagen können, wie das Stück sich gestalten wird.
Drittens: Wie ein verbitterter Nachbarschaftsstreit wirkte der Prozess über weite Strecken. Frank Kroll und Sebastian Huber sollten dringend einen Kaffee trinken gehen, vielleicht vor der Schaubühne, Oliver Schmaering darf mit und sich ins Smartphone vertiefen. Und dann liest man zusammen Bertolt Brechts „Sonett zur Neuausgabe des Francois Villon“. Das schrieb der Meister, als ihm Urheberrechtsverstöße vorgeworfen wurden mit der ihm eigenen Lässigkeit: „Nehm jeder sich heraus, was er grad braucht! / Ich selber hab mir was herausgenommen…“. Ach, Brecht. Ach, Recht.