11. August 2010 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Mademoiselle Chambon

Liebe im Rückwärtsgang

MADEMOISELLE CHAMBON von Stéphane Brizé

Wenn das Kino jemanden zeigt, in dessen Leben alles glatt läuft, dann wird meistens alles unternommen, um ihm das Gegenteil zu beweisen. Als müsse vorgeführt werden, wie fragil das ist, was wir für einen gelungenen oder zumindest plausiblen Lebensentwurf halten.

Wenn also ein Mann wie Jean (Vincent Lindon) gezeigt wird, der in einem südfranzösischen Städtchen sein Auskommen als Maurer hat und dessen Ehe- und Familienleben, so weit man sehen kann, nichts zu wünschen übriglässt, dann kann man sicher sein, dass der Titel MADEMOISELLE CHAMBON auf eine unvorhergesehene Begegnung verweist, die in ihm Sehnsüchte weckt, die er vorher gar nicht hätte benennen können.

Mademoiselle Chambon (Sandrine Kiberlain) ist die Lehrerin seines Sohnes, in deren Klasse er Auskunft über den Arbeitsalltag eines Maurers gibt, und wie das in Kleinstädten so ist, begegnet man sich nicht nur einmal. Zu den Feinheiten von Stéphane Brizés Film gehört es, dass er, wenn der Maurer in Mademoiselle Chambons Wohnung kommt, um ein undichtes Fenster auszutauschen, nicht etwa die erotische Spannung auskostet. Stattdessen betont er eher die Widerstände, die Schüchternheit, die Wortlosigkeit, das Unbehagen, sich in einer Situation zu befinden, deren Möglichkeiten man sich aus verschiedenen guten Gründen nicht gestatten möchte auszumalen. Und während der Maurer sich dann endlich an die Arbeit macht, legt sie sich mit einem Buch aufs Bett – und schläft ein. Als er gehen will, wandert sein Blick durch die halboffene Tür über die Schlafende – und vielleicht ist dies das Entscheidende an dieser Begegnung, dass die beiden bei aller Verlegenheit, weil sie nicht so recht wissen, wie sie sich begegnen sollen, eine Vertrautheit verbindet, die jenseits der Worte liegt und vor allem jenseits des wachen Bewusstseins.

Von einem solchen wortlosen Einverständnis hat Brizé auch schon in MAN MUSS MICH NICHT LIEBEN erzählt, wo sich der freudlose Gerichtsvollzieher zaghaft seiner Tangopartnerin annäherte, und auch diesmal vollzieht sich alles nur in kleinen Schritten – oder vollzieht sich eben nicht. Mademoiselle Chambon ist nur für ein Jahr als Aushilfe an der Schule und ist kaum der Typ für eine Affäre mit dem Vater einer ihrer Schüler, und auch in seinem Leben ist kein Platz dafür. Es ist ja auch nicht so, dass es vorher eine emotionale Leere gegeben hätte, die auf diese Weise ausgefüllt werden müsste. Aber auf einmal ist eine Irritation entstanden, ein Riss, der einen Blick auf ein anderes Leben ermöglicht, dessen Reiz womöglich gar nicht so sehr in der Andersartigkeit bestünde als im Konjunktiv selbst. Und wie dieses Neigen von Herzen zu Herzen plötzlich Schmerzen bereitet, zeigt Brizé auf sehr anmutige Weise.

Dabei helfen ihm nicht nur der notorisch unterschätzte Vincent Lindon und die wie immer zauberhaft zarte Sandrine Kiberlain, sondern auch der Umstand, dass die beiden im wirklichen Leben mal ein Paar waren und eine gemeinsame Tochter haben. Der Film ist quasi eine in entgegengesetzter Richtung laufende Zeitlupe dieser Liaison, eine Beziehungstherapie im Rückspiegel.

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