12. Februar 1985 | Süddeutsche Zeitung | Theater | Ella

Biographie – ein Fluch

Achternbuschs „Ella“ im TiK

Auf der schwarz ausgeschlagenen Bühne ein durch Steine und Kiesel abgegrenzter Spielkreis, den steinzeitlichen Feuerstellen vergleichbar. In dessen Mitte ein paar Obstkisten, ein Spiegel, ein Kleiderständer sowie eine Kaffeemühle samt zugehörigem Service. Das ist der Raum, den sich Joseph in der Rolle seiner Mutter Ella langsam erspielt, indem er die Dinge nach und nach benutzt und sie sich so aneignet, den er ganz ausfüllt und der ihm gleichzeitig völlig genügt. Ein Ausbrechen aus dem Steinkreis gibt es nicht, nicht einmal einen Versuch. Denn der Rest der Bühne ist ein anderer Raum, eine andere Ebene. Dort werden auf zwei Leinwände links und rechts Dias projiziert, die wie Fußnoten zu Ellas Existenz wirken, Bilder von Schaufensterpuppen und von baufälligen Ruinen und Wohnsilos. Immer einander entgegengesetzt, der von Werbung gestellte Anspruch auf der einen Seite, Lebenswirklichkeiten auf der anderen. Dazwischen Ella, die dem Anspruch nicht genügen kann und die gezeigte Wirklichkeit, selbst in all ihrem Elend, nicht haben darf.

Herbert Achternbuschs „Ella“, ein zum Bühnenmonolog gekürzter Prosatext aus „Happy oder Der Tag wird kommen“, ist für zwei Personen geschrieben: Ella als Sohn und als Mutter. Der Spanier Victor Oller hat für seine Inszenierung im ‚Theater in der Kreide‘ die Mutter-Ella auf eine Büste reduziert. Dadurch wird die in sonstigen Inszenierungen anwesende, gleichwohl stumme Mutter aus dem Konkreten befreit, wird hier zum Sinn-Bild der mütterlichen Erblast, des Fluchs. Die Hoffnung des Sohnes wie des Zuschauers, die Mutter möge irgendwann in den Monolog eingreifen, den Sohn befreien, ist hier von vornherein vergeblich. Das konzentriert die Aufmerksamkeit ganz auf Ella-Sohn, dem die trostlose Biographie der Mutter zur eigenen Tragödie wird.

Der Text gibt, auf bairisch natürlich, das Lebensprotokoll einer Geschlagenen wieder, der das Leben nicht einen schönen Moment gegönnt hat. Eine Biographie wie ein Fluch. Da klingt dann ein Lied der „Comedian Harmonists“ wie bitterster Zynismus: „Wünsch dir was. Was du dir heute wünschst, wird morgen vielleicht wahr.“

Spätestens, wenn sich auf der Bühne das ganze Elend dieses Lebens entfaltet, wird klar, daß die Aufspaltung der Ella in zwei Figuren kein absurder Gag, sondern ein gleichermaßen genialer wie notwendiger Einfall ist. Die so geschaffene Distanz macht glaubwürdig, was im Ansatz überzeichnet scheint (das Schicksal ist tatsächlich das einer Tante Achternbuschs).

Victor Oller versucht weiter, das Spiel vom konkreten Schicksal zu lösen, indem er die durch den Steinkreis bereits eingeführten archaischen Elemente weiterentwickelt. Aus der Feuerstelle wird am Ende ein Opferaltar, auf dem sich der Sohn und damit auch seine Mutter vom Fluch des Schicksals erlöst, mit etwas Zyankali im Kaffee. Vorher hat er sich noch den nackten Körper mit Lehm eingeschmiert und mit gelben Zeichen versehen. Das Leben nicht nur als psychiatrische Sitzung, sondern auch als archaisches Ritual.

Doch alle Versuche, den Zuschauer vom Geschehen zu distanzieren, werden durch Joachim Bauers Spiel überwunden. Seine Darstellung ist so zwingend, wie man das auf Kleintheaterbühnen nur selten sehen kann. Was anfangs noch zum Lachen reizt, etwa wie er sich vergebens bemüht, mit baierischem Dialekt hochdeutsch zu sprechen oder wie er immer wieder andere Frauenkleider anzieht, das läßt einem mit einem Mal das Lachen im Halse stecken bleiben. Er versucht nicht, wie eine Frau zu sprechen oder sich so zu bewegen und erreicht gerade dadurch, daß man vergißt, daß er ein Mann ist. Man sieht einen Menschen, der keiner sein darf, den die primitive Gesellschaftsordnung, die bornierte Bürokratie zu einer Kreatur degradiert, ohne Aussichten, ohne Hoffnung. Einzig zwei Frösche, die aus einem Glas befreit werden, können den Steinkreis ungehindert überwinden. Doch nicht einmal die Rechte dieser einfachsten Kreaturen werden Ella zugestanden. Es bleiben die einzigen glücklichen Momente, in denen sie sich selbst vergessen konnte: „Kino war das Schönste.“

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