23. November 1996 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Rezension | Die Tote ohne Namen

Blut im Schnee

Patricia Cornwells traurige Kunst des Mordens

PATRICIA CORNWELL: Die Tote ohne Namen. Roman. Aus dem Englischen von Anette Grube. Hoffmann und Campe, Hamburg 1996. 366 Seiten, 39,80 Mark.

Weihnachten ist in dieser Welt ein Tag wie jeder andere. Im verschneiten Central Park wird an einem stillgelegten Brunnen eine nackte Tote gefunden, um die sich im weißen Schnee ein hellroter Fleck gebildet hat, weil Blut bei diesen Temperaturen nicht gerinnt. Da alle Indizien auf den Serienmörder Temple Brooks Gault hindeuten, wird Dr. Kay Scarpetta hinzugezogen, die ihm seit Jahren auf den Fersen ist.

Die oberste Leichenbeschauerin des Staats Virginia ist nun schon zum sechsten Mal Patricia Cornwells Heldin, umgeben von vertrautem Personal der anderen fünf Romane: ihrer smarten Nichte Lucy, dem bärbeißigen Polizisten Pete Marino und dem aalglatten FBI-Mann Benton Wesley. Und mehr denn je legt sich das eisige Schweigen der Toten über die Schauplätze der Handlung. Schon der Originaltitel „From Potter’s Field“ kündet davon: So heißt der Friedhof auf einer kleinen Insel im East River, wo die nicht identifizierten Toten New Yorks begraben werden.

Es gibt zur Zeit keine andere Kriminalautorin, die so zuverlässig und anschaulich die beklemmende Alltäglichkeit des Grauens einfängt wie Patricia Cornwell. Der Wechsel zwischen dem mikroskopisch genauen Blick der Leichenbeschauerin und ihrer von den Nebeln der Melancholie verhangenen Weltsicht macht den Reiz dieser Romane aus. Diesmal findet das Duell zwischen dem Psychopathen und der Pathologin nicht im heimischen Richmond statt, sondern in den Subway-Tunneln des bitterkalten New York, in denen sich das eisige Labyrinth der psychopathischen Welt widerzuspiegeln scheint. Was am Ende ans Licht kommt, ist bei Cornwell natürlich nie ein Trost. Der Mord ist bei ihr immer eine traurige Kunst. Die Pathologie auch: Aber immerhin erfährt man dabei, wie Abdrücke von Fußspuren im Schnee genommen werden.

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