01. Mai 1995 | Spiegel | Essay, Literatur, Popkultur | 100 Jahre Comics

Sprungbretter ins Glück

Der 5. Mai 1895 gilt als Geburtstag der Comic-Kunst: In der Tageszeitung New York World hatte an diesem Tag die Zeichenfigur "Yellow Kid" ihren ersten Auftritt. 100 Jahre später, schreibt der Münchner Filmkritiker Michael Althen, 32, in der folgenden Bilanz einer Erfolgsgeschichte, wirkt das vielgeschmähte Genre realistischer denn je.

Wenn ein 100. Geburtstag zu feiern ist, dann lesen sich die Gratulationen meist wie Nachrufe. Das Kino ist 100 geworden – und es gab viel Gejammer. Der Comic wird 100 – und besonders fröhlich scheint den Gratulanten nicht zumute zu sein. Woran, fragt man sich da, liegt es eigentlich, daß sich mancher Artikel über Ernst Jünger munterer las als die meisten Texte zu den Jubiläen von Kino und Comics? Näher an der Welt, näher am Leben, näher an uns. Als ginge uns der alte Mann tatsächlich mehr an als die junge Kunst. Und als hätten die Leute allen Ernstes mehr Zeit auf den Marmorklippen als in Entenhausen verbracht. Und wenn es tatsächlich so wäre – um so schlimmer.

Äußert sich heutzutage irgendwer über Comics, dann achtet er stets darauf, erst mal fein säuberlich die Spreu vom Weizen zu trennen. Was Kunst ist und was Kommerz, ist immer aufs neue zu klären. Denn vorausgesetzt werden darf beim Leser überhaupt nichts, und zumuten möchte man ihm schon gar nichts. Man stelle sich mal vor, an andere Künste würde mit derselben Attitüde herangegangen.

Gerade zur Jubiläumszeit also muß man schier verzweifeln an den Feuilletons, an ihrer Trägheit, Weltferne und Arroganz. Von der Postmoderne wird viel geredet, aber vielerorts plagt man sich offenbar noch mit der Moderne. Daran hat Umberto Eco nicht viel ändern können, der Batman zum Personal seiner Diskurse zählt; und auch die diversen Franzosen nicht, die dem Comic Geleitschutz gaben.

Der Philosoph Michel Serres fragte: „Und wenn die Philosophie gar nicht mehr dort wohnte, wo man sie gewöhnlich erwartet? Während sie sich in Todeszuckungen windet in der Nacht der Esoterik, zeigt der Comic-Strip im hellen Licht und ohne Umschweife die Wunden unseres Diskurses…

Nun wissen wir endlich, wo wir uns informieren und worüber wir meditieren können. Schande über die Gelehrten, die Tiefgründigen, die Theorieverliebten, die Unlesbaren, die Dunklen, die Unzugänglichen.“ Hinein also ins Licht.

Am 5. Mai 1895 erschien in der Sonntagsbeilage der New York World eine Zeichnung von Richard Felton Outcault, die als Geburt des Comics gilt. Man hätte genausogut Wilhelm Buschs „Max und Moritz“ nehmen oder sich auf eines der darauffolgenden Jahre einigen können, in denen „Yellow Kid“ in der New York World oder Rudolph Dirks‘ „Katzenjammer Kids“ im New York Journal in Serie gingen.

Die World und das Journal erkannten bald die Zugkraft der Strips, ihre Besitzer Joseph Pulitzer und William Randolph Hearst lieferten sich einen erbitterten Konkurrenzkampf und warben sich gegenseitig die Zeichner ab.

Die Geburt des Comics aus dem Geist des Kapitalismus ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Was die Popularität enorm beförderte, war die Tatsache, daß vor allem die Einwanderer, die der Sprache noch nicht so mächtig waren, die Bildergeschichten verschlangen. Im Kauderwelsch des „Yellow Kid“ konnten sie sich leicht wiederfinden. So gesehen ist der Comic dem amerikanischen Traum entstiegen, an dem die Massen im Schmelztiegel teilhaben wollten.
Bis in die dreißiger Jahre blieben Comics eine Dreingabe. Die Strips waren auf die Zeitungsseiten beschränkt, erst danach erschienen sie in Heften, die sich nichts anderem widmeten. Die Trennung bescherte der Kunst zwar neue Formen, aber brachte auch bald alte Feinde auf den Plan. Auf einmal war die geistige Gesundheit gefährdet.

Der US-Psychiater Frederic Wertham schwang sich zum Wortführer besorgter Eltern auf und führte einen kalten Krieg gegen die Comics. In den Wochenschauen lief ein Aufklärungsfilm, der Jugendliche bei der Lektüre zeigte. Darin bekam die amerikanische Nation vorgeführt, wie die abgebildete Gewalt in Aggressionen mündet. Es wurde gezeigt, wie die Kinder langsam unruhig werden und schließlich zum Taschenmesser greifen, um sich abzureagieren. 1954 wurde dann eine Selbstzensur eingeführt, die sogar die Abbildung von Schweißperlen untersagte. Auch auf diese Weise hielten die Comics ihrer Zeit einen Spiegel vor.

Der Krieg gegen den Schund tobt bis heute in Klassen- und Kinderzimmern. Und das ist im Grunde auch gut und richtig so. Denn natürlich handelt es sich bei Comics um Schund und nicht um das Wahre, Gute, Schöne. Der Comic ist eine Blume, die auf der Müllhalde der anderen Künste blüht, sich von ihren Abfällen nährt und sich wie Unkraut dort verbreitet. Ihre Samen sind zwar längst hinausgetragen worden in die Welt, aber ihren Ursprung müssen die Comics deswegen nicht verleugnen.

Wäre ihr Erfolg denn überhaupt vorstellbar, wenn sie sich widerstandslos einvernehmen ließen, von Eltern und anderen Bedenkenträgern? Wenn sie sich den Lesarten der anderen Künste sofort erschließen würden? Nein, der Bauch der Comics liegt wie der des Kinos oder der Musik deutlich unter der Gürtellinie des Kulturbetriebs. Dort wird gearbeitet, dort wird verdaut, von dort kommt die Energie. Und es tut den populären Künsten auch nicht gut, wenn ihnen immer nur auf den Kopf geschaut wird. Dazwischen liegt immer noch das Herz.

Der Comic braucht wie das Kino nicht zu leugnen, daß er zu den billigen Vergnügungen zählt. So wie man dort noch das Echo der Jahrmärkte und Varietes hören kann, so muß man hier das Stampfen der Druckmaschinen spüren, die Zeitungen und Hefte unablässig ausspucken. Hefte, die dann, zerlesen und zerfleddert, achtlos liegengelassen oder weggeworfen werden. Das schließt nicht aus, daß man sich auf der anderen Seite darüber erhebt – daß man Autoren und Zeichner entdeckt, kostbare Editionen herausgibt, von Kunst spricht. Aber deshalb muß man sich noch lange nicht dauernd dafür entschuldigen, daß die Massenware die Regel ist.

Lehrer und Eltern werden nie begreifen, daß niemand die Ausnahme genießen kann, wenn er sich nie mit der Regel auseinandergesetzt hat. Unermüdlich traktieren sie ihre Kinder mit dem „Faust“ – und wundern sich, wenn keine rechte Freude aufkommen will. Tapfer schleppen sie die Kinder durch Museen – und fragen sich dann verzweifelt, warum die lieber über Comics hocken.

Wer tausendfach die Geschichte vom Superhelden verschlungen hat, der wird es irgendwann schon zu schätzen wissen, wenn ein Held an sich und der Welt zweifelt. Und wer sich immer wieder demselben Muster gegenübersieht, der wird ganz anders reagieren, wenn es irgendwann durchbrochen wird. Schließlich weiß man längst, daß auch die Zwänge der katholischen Kirche stets ein guter Nährboden für Künstler waren.

Weil der Comic dem Gesetz der Serie folgt, standen die Schöpfer lange im Schatten ihrer Helden. Erst im Laufe der Zeit wurden die Künstler und ihre unverwechselbare Handschrift entdeckt und gefeiert. Daß Carl Barks und nicht Walt Disney in Entenhausen regierte, hat sich erst spät herumgesprochen. Heute werden Leute wie Loustal und Moebius, Enki Bilal und Jacques Tardi, aber auch frühe Genies wie Winsor Mc Cay („Little Nemo“) oder Will Eisner („The Spirit“) ganz selbstverständlich wie Stars gefeiert.

Aber jede neue Generation holt erst einmal wieder die alten Helden ans Licht: Mickey Mouse oder Donald Duck, Asterix oder Obelix, Fix oder Foxi.
Natürlich mußten wir nicht Freud lesen, um bei Donald Duck zu lernen, was Neurosen sind. Und man brauchte auch nicht Camus, um den Mythos von Sisyphos zu verstehen, wenn man sich Charlie Brown vor Augen hielt. Und Nietzsche war sowieso nicht nötig, um Zweifel an Gottes Existenz aufkommen zu lassen; da genügten Batman oder Superman völlig. Und Karl May war eigentlich auch nicht unser Ding, weil die Abenteuer von Tim und Struppi spannend genug waren.
Die Welt bekam in den Comics eine Form, die anschaulicher und klarer umrissen war als anderswo. Der Comic, könnte man mit Andre Bazin sagen, unterlegte unseren Vorstellungen eine Welt, die mit unseren Wünschen übereinstimmte.

So verbrachten wir unsere Kindheit im eigenartig klaren Licht von Entenhausen, unter den hohen Eichen in Gallien, im Schatten der Hochhäuser von Gotham City oder in der Ruinenstadt im Haifischsee. Man bekam eine Vorstellung davon, wie Städte aussehen und wie das Zusammenleben in ihnen funktioniert.
Das war vielleicht nicht die Wirklichkeit, aber man bekam wenigstens ein Muster vorgeführt, mit dem man sie sich erklären konnte. Das hat die Phantasie nicht etwa eingeengt, sondern diente ihr als Sprungbrett. Die wahren Abenteuer begannen da, wo die Zeichnungen aufhörten. Die Umrisse und Umrandungen wurden so lange mit Leben aufgefüllt, bis sie überliefen oder platzten. So entfernte man sich langsam von den Comics.

Wer sich mit Comics beschäftigen will, muß den Bruch erlebt haben, den Riß, der sich plötzlich auftut zwischen ihnen und der Welt. Erst dann kann man wieder zurückkehren zu ihnen. Aber die neue Perspektive ist dann überlagert von den Erinnerungen an die Kindheit und dem vagen Gefühl, in den Comics läge der Schlüssel verborgen zu einer Welt, in der sich die Dinge heller, schärfer und klarer präsentierten. Verzweifelt verliert man sich im Labyrinth der Bilder und sucht nach einem Zipfel jener kindlichen Unschuld und Neugier, die verlorengegangen ist.

Wer Comics liest, begibt sich immer auch auf die Suche nach der verlorenen Zeit. Auch dort, wo man sich neuen Büchern und Bildern zuwendet, sucht man nach jenem Gefühl, wo das Zusammenspiel von Farben und Formen, Bewegungen und Rhythmus, Linien und Flächen allein schon genügt, um in eine andere Dimension einzutreten.

Das Zusammenspiel von Welt und Comic hat sich in der letzten Zeit verändert. Nicht nur, weil früher aus erfolgreichen Filmen Comics wurden und heute aus Comics erfolgreiche Filme. Daß sich die Filme dabei der vereinfachten Welt der Zeichnungen annähern, sagt weniger über den Zustand der Kunstformen als darüber, wie sich unsere Wirklichkeit verändert hat. Denn der Vorwurf der Vereinfachung, der Comics früher häufig gemacht wurde, zieht schon lange nicht mehr.

In einer Welt, die zunehmend von eingetragenen Warenzeichen regiert und in der alles dem Design oder der Corporate Identity unterworfen wird, ist den Comics eine neue Welthaltigkeit zugewachsen. 100 Jahre wird die neue Kunst nun alt – und wirkt realistischer denn je. Viel unbefangener kann sie sich der Wirklichkeit nähern, seit sich die elektronischen und digitalen Bilder ihr immer mehr entfremdet haben.

Die Lücke zwischen Filmbildern und bildender Kunst, in der sich der Comic eingenistet hat, ist mittlerweile so groß, daß man dort oft mehr von dem finden kann, was man Leben nennt, als anderswo. Wenn es darum geht, unseren Träumen, Ängsten und Gefühlen eine Heimat zu bieten, sind die Comics heute den anderen Künsten zumindest ebenbürtig.

Als der Comic geboren wurde, war er das uneheliche Kind von Literatur und Malerei. Lange hat er sich zwischen Jukeboxes und Reklameschildern herumgetrieben, sich von Seifenopern und Groschenromanen ernährt. Mit 100 Jahren ist er mittlerweile zum Gourmet gereift, der auch intellektuelle Kost nicht verschmäht. Aber seine Kinder und Kindeskinder sind immer noch die reinsten Bastarde.

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