18. Juli 2000 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Rezension | Rodinskys Raum

Ins schwarze Loch

Wie ein Roman von Modiano: das Sachbuch „Rodinskys Raum”

Wie soll man das beschreiben, wenn man ein Buch immer nur seitenweise in der Trambahn liest, so wie man einen guten Whiskey immer nur in kleinen Schlucken genießt. Wenn man plötzlich den Eindruck hat, man bewege sich lesend in eine andere Welt, eine andere Zeit, ein anderes Leben. Und wenn man eigentlich nicht aufhören oder nach der letzten Seite gleich wieder von vorn beginnen möchte. Ja, wie soll man das beschreiben…?

„Rodinskys Raum” ist kein Roman, der uns mit dem Sirenengesang der Identifikation hinabzieht, sondern ein simples Sachbuch, das sich auch noch buchstäblich mit einem Niemand befasst. Nichts an seinem Titelhelden lädt zur Identifikation ein – er ist eine Leerstelle, ein Nichts, ein schwarzes Loch, auf das all unsere Imaginationen zustürzen, um sich in Staub aufzulösen. Dass dieses Zentrum nicht greifbar ist, macht einen Gutteil seiner Faszination aus. Denn die Autoren selbst müssen sich anstrengen, ihres Helden überhaupt habhaft zu werden. Ihre Suche ist das Thema – und das Ergebnis treibt einem die Tränen in die Augen, obwohl man von Anfang an alles gewusst hat. Wenn man so will, dann ähnelt das Ende dem des Films „Schindlers Liste”, in dem man auch erfahren durfte, welch reinigende Kraft die jüdischen Trauerrituale haben können.

Nochmal von vorne: Irgendwann Ende der sechziger Jahre verschwand ein Mann namens David Rodinsky aus einer Dachstube in einer Londoner Synagoge in Whitechapel, ohne eine Spur zu hinterlassen. Nicht dass irgendwer ihn vermisst hätte, aber als zehn Jahre später jemand auf die Idee kam, das Zimmer zu öffnen, fand man alles unberührt, nur vom Staub der Jahre überzogen. Der Vorfall erregte einiges lokales Aufsehen, der Raum wurde fotografiert, Magazine berichteten, aber niemand konnte damit rechnen, dass eine junge Künstlerin sich Jahre später des Falles annehmen und den Verschwundenen mit einer Verbissenheit suchen würde, als ginge es um ihre eigene Identität. Und das tat es in gewisser Weise ja auch.

Rachel Lichtenstein hieß die junge Frau, die sich in der Dachstube einnistete und versuchte, den Gegenständen – und den Fotos, die von ihnen gemacht wurden – das Geheimnis ihres Besitzers zu entlocken. Wie der Publizist Iain Sinclair, dessen Überlegungen ihre Erlebnisse kontern, anmerkt, war es so, als hätten sich der Verschwundene und sein Raum jemanden gesucht, der seine Geschichte erzählt – und nicht umgekehrt. Aber davon abgesehen hat sich an diesem fait divers die Imagination auf eine Weise entzündet, dass quasi ein ganzes Leben in Flammen stand.

Was die Geschichte so spannend macht, ist die Tatsache, dass der Fall Rodinsky nicht nur Wurzeln schlägt in die Geschichte der Juden in unserem Jahrhundert, sondern dass sich darin auch ein Stück Stadtgeschichte spiegelt. Denn „Rodinskys Raum” ist genauso sehr ein biografisches wie topografisches Unterfangen. Es berichtet auch davon, wie im Londoner East End nach und nach die Spuren jüdischer Tradition beseitigt wurden, wie Immobilienspekulation und Stadtentwicklung eingreifen in das, was wir Erinnerung nennen. So alt sind die Zeugen rund um die Synagoge in der Princelet Street No. 19, dass man mit jeder Seite befürchten muss, dass sie für immer verstummen werden.

So zieht Rachel ihre Kreise rund um das verwunschene Dachstübchen, dessen einstiger Bewohner eine Art missing link zu ihrer eigenen jüdischen Tradition bildet. So wie sie nach dem Tod des Großvaters den Namen Lichtenstein angenommen hat, um sein Erbe nicht sterben zu lassen, so bohrt sie sich in die Vergangenheit dieses Zimmers hinein, obwohl es nur eine Art Spiegel ist, in dem sie sich selbst erkennen kann. Es spielt dabei keine Rolle, dass Rodinsky kaum mehr war als ein armer Verrückter, der sich in seinen kabbalistischen Labyrinthen verloren und ein ärmliches Leben als Synagogendiener gefristet hat – er ist eine Metapher für all die jüdischen Schicksale, die im 20. Jahrhundert auf so grauenvolle Weise ausgelöscht wurden. Vielleicht liegt gerade in dieser Vermitteltheit die unglaubliche Kraft dieser Erzählung: Dass das, was sich jeder Beschreibung entzieht, hier darstellbar wird – über den Umweg von tausend Spiegeln.

So bewerkstelligt dieses Buch eines jener topografischen Wunder, die sonst nur den Romanen des Franzosen Patrick Modiano gelingen: dass ein toter Raum eine Geschichte in Bewegung bringt, die sich einer umfassenderen Historie entgegen spannt. Und man hat mehr denn je den Eindruck, dass in der Geschichte des jüdischen Volkes der Schlüssel zu allen Geheimnissen unserer Zeit liegt. Und man kann hier erfahren, wie viel Kraft und wie viel Leben investiert werden muss, um letztlich von einem schwarzen Loch verschlungen zu werden. Der Rest sind Tränen.

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