23. Oktober 1990 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Literatur | Publizistikpreis Klagenfurt

Text oder Kontext, das ist hier die Frage

Beobachtungen beim Internationalen Publizistikwettbewerb Klagenfurt

Was ist Publizistik? Ganz klar, wenn ein Publizist Publikationen für ein Publikum publiziert. Publizistik ist zu deutsch ein großes Wort, in dem viele Leute Platz finden und sich nur wenige zu Hause fühlen. Ks hat also vielleicht damit zu tun, wenn jedes Jahr wieder nur wenige Journalisten in Klagenfurt den Eindruck haben, daß sie in diesem Wettbewerb wirklich gut aufgehoben sind.

Der österreichische Künstler Heinz-Peter Maya hatte für dieses Jahr im ORF-Theater eine Kulisse geschaffen, die aus den zwei Seiten eines Wörterbuchs bestand, auf denen man auch den Begriff Publizistik fand. Sinnigerweise war die Stellwand und damit auch die Jury von einem ganz anderen Begriff gekrönt, der den Sitzungen mitunter auch ganz angemessen war: Psychotherapie. Seelenleben und Gemütszustände der Juroren spielten für die Beurteilung erneut eine kaum weniger große Rolle als die Kriterien, nach denen man wieder einmal vergeblich suchte. Was die Urteilsfindung nicht so stören würde, wenn sich die Veranstalter endlich einmal dazu durchringen könnten, nur Gleiches mit Gleichem zu vergleichen. Auf den Monitoren, die das Geschehen im ganzen Haus übertrugen, ergaben statt dessen die verschiedenen Kameraperspektiven die erheiterndsten Kombinationen zwischen der Kulisse dieses Wettbewerbs und seinen Hauptdarstellern. Protuberam und Provinzialität konnte man da neben den Köpfen lesen, und irgendwie unterwanderte das den Ernst der Auseinandersetzungen viel nachhaltiger als der überdimensionale Papierflieger, der der Jury zu Füßen lag.

Hier sei „nicht das Walhall des Journalismus versammelt oder das Parthenon“, hieß es aus der Jury, sondern Kollegen. Nicht immer schien sich indes die Kollegialitat gegen andere Gefühlsregungen durchsetzen zu können. Was in den letzten Jahren die „Zeitgeist“-Magazine waren, war diesmal der Spiegel, für den der Musikredakteur Klaus Umbach stellvertretend büßen mußte. Unabhängig von der Richtigkeit der Vorwürfe im allgemeinen hätte vielleicht ein Blick aufs Besondere von Umbachs Texten gut getan. Öfter hätte man tun sollen, was der Juror Tilman Spengler nur einmal forderte: Nicht die offensichtlichen Schwächen zu suchen, sondern das Versteckte.

Wie jedes Jahr mußte die Jury vor der Vielfalt der Erscheinungsformen kapitulieren. Weil die vier verschiedenen Preise keinerlei Vorgaben haben, werden sie einfach übers ganze Feld der Nominierten verstreut. Der Joseph-Roth-Preis zeichnet nichts anderes aus als der Preis der Kreditanstalt. Darunter haben zumeist die kleinen Formen des Journalismus zu leiden, denen im Zweifelsfall immer die aufwendig recherchierte Reportage vorgezogen wird.

Aufgewogen mit der Schwere und Bedeutung des Politischen und Sozialen wird die Kultur eben gern für zu leicht befunden. Das diesjährige Opfer dieser Einschätzung war Claudius Seidl, dessen Filmkritiken zwar das meiste Lob auf sich vereinen konnten, der am Ende aber doch leer ausging. Im Unterschied zu früher wissen die Veranstalter und Juroren mittlerweile, daß sie Äpfel mit Birnen vergleichen. Aber geändert hat sich nichts.

Gerade der ORF sollte doch eigentlich wissen, daß das Nächstliegende oft auch das Beste ist. So wie bislang kein wie auch immer geartetes Konzept für Talkshows an den CLUB 2 heranreichen konnte, so gibt es wohl auch kaum ein wirkungsvolleres Prinzip für Preise aller Art als das der Oscar-Verleihung: Nominierung nach Sparten durch die jeweiligen Spezialisten, Entscheidung durch alle. Warum etwa kann in Klagenfurt nicht die Jury wie bisher ihre Kandidaten nominieren, allerdings in Zukunft nach Genres unterschieden, und dann der Gewinner durch Stimmabgabe auch der teilnehmenden Vorleser ermittelt werden? Das hätte zudem den Vorteil, daß die Juroren nicht mehr durch die Solidari¬tät mit ihren eigenen Kandidaten behindert wären. So wichtig dieser Preis auch ist, so nötig wären nun endlich einmal Zugeständnisse an die seit sechs Jahren sich wiederholenden Kritiken.

Kein Wunder, daß alles unvergleichlich wirkt, wenn wenig Gleiches aufeinandertrifft. Würden nicht ständig Feuilletons auf Reportagen, monatelange Recherchearbeiten auf Lokalberichterstattung treffen, könnten sich die Juroren auch endlich einmal auf die Texte konzentrieren. Statt dessen wird alles zum Sonderfall, selbst die Regelfälle, aus denen der Journalismus ja meistenteils besteht. Und wenn sich die Jury einmal auf gewisse Rahmenbedingungen einigen konnte, dann betrafen sie immer eher das Umfeld als die Arbeiten selbst. „Ein Text ist ein Text ist ein Text“, bemerkte der Juror Nikiaus Meienberg und bekam darauf zu hören, daß man den Kontext nicht übersehen dürfe. So richtig und wichtig das auch sein mag, so wenig dient es der Kriterienfindung. Mußte man, so fragte man sich, nun berücksichtigen, daß eine Reportage wie die von Holde-Barbara Ulrich über ein Frauengefängnis der ehemaligen DDR früher nicht hätte geschrieben werden können, oder durfte man trotzdem einwenden, daß außerhalb des Ostblocks diese Art von Sozialreportage schon tausendmal erzählt worden ist? Mit solchen Fragen wurde immer wieder weggeführt von der ergiebigeren Diskussion von Aufbau und Stil, Rhythmus und Lebendigkeit. Und dabei bewies die Geschichte der Leipzigerin Sylvia Kabus über die Erstürmung des Stasi-Hauptgebäudes, daß auch im Osten Deutschlands ein Text durchaus ein Text sein kann, unabhängig von seinem Kontext. Frau Kabus gewann dann auch einen Preis.

Die Preisträger können sich schließlich doch sehen lassen. Da hatte die Jury in all ihren wechselnden Besetzung schon immer eine sichere Hand. Jacqueline Henards Reportage aus der FAZ über die Tschechoslowakei im Jahr eins nach der Revolution las sich zwar bei aller Intelligenz und Informativität etwas konventionell, zeichnete sich aber eben auch durch eine Souveränität in Stil und Aufbau aus, die nur wenige andere Arbeiten besaßen. Sie gewann den mit 150 000 Schilling dotierten Hauptpreis. Mit den beiden anderen Preisen setzte sich das idealistische Konzept der Zürcher Wochenzeitung durch, die ihren Leuten eine Sorgfalt ermöglicht, die es anderswo so nur selten gibt. Stefan Kellers Schilderung der Zustände in der Schweizer Psychiatrie und AI Imfeids Geschichte über die Magie des Maggi-Würfels in Westafrika besaßen eine Genauigkeit und Eigenheit, die man sonst nicht findet. Aber gegen die jahrelangen Recherchen der beiden Schweizer hatten natürlich kaum andere Arbeiten eine Chance.

In der Runde der Kollegen durfte natürlich die Kommunikationswissenschaft nicht fehlen. Zu der Überschrift „Oskar Lafontaine – ein politischer Triebtäter“ klärte Michael Schmolke von der Universität Salzburg dann auch seine Mitjuroren auf, es sei dabei „ja nicht wirklich gemeint, daß Lafontaine ein Triebtäter ist, sondern das ist eine Metapher“. Die Publizistik ist eben ein weites Feld.

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