09. Dezember 1995 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Rezension | Oswalds Geschichte

Eines kurzen Lebens Reise in die Nacht

Norman Mailer erzählt Lee Harvey Oswalds Geschichte bis zum bitteren Ende

NORMAN MAILER: Oswalds Geschichte – Ein amerikanisches Trauma. Aus dem Englischen von Maurus Pacher und Brita Baumgärtel. Herbig Verlag, München 1995. 656 Seiten, 58 Mark.

Am 22. November 1963 ist Lee Harvey Oswald ins Rampenlicht der Welt getreten, und sein Schatten hat sich als schwarzes Loch in die amerikanische Geschichte gebrannt. Geradezu unersättlich verschlingt es bis heute alle Fakten und Fiktionen, Mutmaßungen und Verdächtigungen, Spekulationen und Gerüchte, die den Mord an John F. Kennedy umgeben. Keine andere anonyme Biographie wurde so genau dokumentiert und seziert wie das Leben von Lee Harvey Oswald, das zwei Tage nach dem Attentat endete. Da wurde er von dem Nachtclub-Besitzer Jack Ruby erschossen, ehe er Antworten auf die Fragen geben konnte, die seither die Welt quälen.

Norman Mailer, dessen Phantasie es schon immer gern zu den Brennpunkten des Weltgeistes gedrängt hat, ist diesen Fragen noch einmal, und als wäre es das letzte Mal, nachgegangen. Natürlich ist er klug genug, keine Antworten zu erwarten, und als Biograph von Marylin Monroe wird er wissen, daß sich der Welt ohnehin weder Traum noch Trauma austreiben lassen. Also ist auch Mailer nicht der Exorzist, der dieser Geschichte den Teufel austreiben könnte.
Man muß sich Mailer in diesem Unternehmen als Moderator vorstellen, der die verschiedenen Personen der Geschichte aufruft, um Antworten auf die zentrale Frage zu finden: Wer war dieser Lee Harvey Oswald? Dabei zerfällt das Buch in zwei Teile: Der erste beschäftigt sich mit Oswalds Zeit in Rußland, der zweite mit seinem Leben nach der Rückkehr, als er in die Zielgerade zur Unsterblichkeit einbog. Aufschlüsse hatte man sich vor allem vom Teil in Rußland erhofft, weil Mailer 1993 ein halbes Jahr in Rußland gewesen war und Zugang zu den KGB- Akten über Oswald und zu seinen Beschattern gehabt hatte.

Tatsächlich wirft dieser Part endlich Licht auf das Leben, das der 19jährige Wirrkopf dort geführt hat, der eines Tages nach Moskau gekommen war und erklärt hatte, er wolle Sowjetbürger werden. Den KGB hatte das damals offenbar in beträchtliche Verwirrung gestürzt: Meinte der Junge es ernst oder war er ein amerikanischer Spion? Also schickte man ihn in die Provinz nach Minsk, um ihn leichter überwachen zu können.

Schon hier entsteht das Bild eines impertinenten jungen Mannes, dessen Geltungssucht in krassem Gegensatz zu seiner Ausstrahlung steht. Lediglich die Tatsache, daß er als Amerikaner in Minsk ein Exot ist, verschafft ihm die Aufmerksamkeit der Einheimischen. Der KGB sagt im Nachhinein, Oswald sei ‚ein simpler Fall, ein Fall für Anfänger‘ gewesen: nicht extrem intelligent, kein großer Freundeskreis, berechenbares Verhalten, nichts, was ernsthaft neue Fragen aufgeworfen hätte. Immerhin war er unberechenbar genug, mit 19 zum Kommunismus überzulaufen und – als ihn der Alltag dort langweilte – genauso unvermittelt zurückkehren zu wollen.

Mailer hält sich in Minsk weitgehend zurück, schildert detailfreudig die Biographien von Oswalds Bekanntschaften, und freut sich an den Abschriften der Ehestreitereien, die der KGB aus der Nachbarswohnung belauscht hat. Oswald entpuppt sich als kleiner Pascha, dessen Sauberkeitswahn in krassem Gegensatz zu den Phasen der körperlichen Verwahrlosung steht, in die Oswald später von Zeit zu Zeit fällt. Aber das ist auch nur eines von tausend Puzzle-Stücken, aus denen Mailer sein Bild zusammensetzt.

Im zweiten Teil greift er stärker ins Geschehen ein, orchestriert die zahllosen Stimmen zu einer aufregenden Reise in den Wahn des Mannes, der sich auserkoren glaubt, die Welt zu verändern. All die Wege und Irrwege des Mannes mag jeder für sich selbst nachvollziehen – zwei Sätze darin geben einem Hinweise, wie man mit der Überfülle an Material umzugehen hat. Im ersten bemerkt Mailer, daß es immer wieder Bemerkungen gebe, „die darauf schließen lassen, daß noch ganz andere Kräfte im Universum am Werk sein könnten als Vernunft, süße Vernunft“. Im zweiten fragt er: „Vielleicht gefällt es dem Kosmos, Koinzidenzen um den Rand des Trichters zu streuen, in dem große Ereignisse zusammenströmen.“ Das Leben, das sollte man spätestens hier gelernt haben, kennt eben komplexere Zusammenhänge als Ursache und Wirkung. Anders gesagt: Je näher man hinsieht, desto ferner blickt es zurück.

Am beunruhigendsten ist deshalb ein Nebensatz, in dem es heißt, es gebe im ersten Halbjahr 1963 ein- bis zweihundert Stunden in Oswalds Leben, die sich nicht mehr rekonstruieren lassen. Die meisten Menschen wären vermutlich nicht einmal in der Lage, ihr eigenes Leben so umfassend zu dokumentieren – und hier fehlen nach 32 Jahren nur ein paar läppische Tage! Und doch verschließt sich dieser gläsernen Biographie zum Trotz dieses Leben der einfachsten Frage: Warum?

Don DeLillo, der das Attentat selbst in dem Roman „Libra“ („Sieben Sekunden“) verarbeitet hat, hat einmal geschrieben: „Sobald wir auch das allergewöhnlichste Leben einer gnadenlosen Begutachtung aussetzen, jeden Freund, Angehörigen, Bekannten in seinem ganz persönlichen Raum voller Schatten nachgehen – und nicht nachgeben, Verbindungen herzustellen? Wir alle führen vermutlich ein interessanteres Leben, als wir glauben.“ Jedes Leben hinterließe, so durchforscht, genügend lose Enden und tote Punkte, weiße Flecken und rätselhafte Faltenwürfe, um den schlimmsten Befürchtungen Nahrung zu geben. Je mehr Fakten aus Oswalds Geschichte bekannt werden, desto mehr wirkt er wie eine besonders hinterhältige Erfindung.

Die einzig mögliche Antwort auf all diese Fragen um den Tod John F. Kennedys, hat im Grunde James Ellroy im Vorwort zu seinem neuen Roman „American Tabloid“ formuliert: „Amerika ist nie unschuldig gewesen. Man kann unseren Verlust der Gnade nicht einem einzelnen Ereignis zuschreiben. Denn man kann nicht verlieren, was von Anfang an gefehlt hat.“

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