21. März 2001 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Rezension | Gestohlene Welten

Der Schlitzer von Baltimore

Eine Kriminalgeschichte der Kartografie: "Gestohlene Welten"

Es gibt eine Geschichte von Jorge Luis Borges, die Wunsch und Wahn aller Kartografen auf den Punkt bringt: Darin zeichnen die Landvermesser immer noch genauere Karten ihres Landes, bis am Ende ihre Karte so detailliert ist, dass sie das ganze Land bedeckt. Man sieht daran, dass die Liebe zu Karten stets dazu tendiert, eine alles verschlingende Leidenschaft zu werden, bei der sich das Abbild gerne vor die Wirklichkeit schiebt.

Man muss nicht erst die Vulgärpsychologie bemühen, um den Verdacht zu hegen, dass Leute, die sich gern mit Karten befassen, von einer Sehnsucht nach Ordnung und Überblick getrieben werden, die ihnen im wirklichen Leben womöglich abgehen. Es gibt aber durchaus noch das ästhetische Erlebnis, das die Karte nicht als Mittel zum Zweck der Orientierung begreift, sondern als Irrgarten der Farben und Formen, durch den man sich nach Lust und Laune treiben lässt. Jenen Schwindel, der einen vor dem satten Grün der Tiefebenen, dem tiefen Blau der Ozeane oder dem zarten Rosa der Städte befallen kann, beschreibt Miles Harvey so: „Eine Karte spricht nicht in Sätzen. Ihre Sprache ist ein kaum vernehmliches Gemurmel, abgehackt, sprunghaft, kurz angebunden, unzusammenhängend. Sie teilt sich über Linien, Farben, Töne, verschlüsselte Symbole und Leerräume mit, fast wie Musik.“

Man muss für die Musik der Topografie nicht unbedingt ein Ohr haben, um in dieser Kriminalgeschichte der Kartografie auf seine Kosten zu kommen. Sie entzündet sich an einem Fall aus dem Jahr 1995, als in der George Peabody Library von Baltimore ein Kartendieb namens Gilbert Bland festgenommen wurde, der mit einer Rasierklinge vier Landkarten aus 200 Jahre alten Folianten herausgeschnitten hatte. Es sollte sich herausstellen, dass Bland im Laufe der Jahre über 250 Karten im Wert von 600 000 Dollar aus den verschiedensten Bibliotheken gestohlen und zum Teil weiterverkauft hatte. Der Mann ist kein Einzelfall, aber in der Geschichte der Bibliophilie darf er doch als größter anzunehmender Unfall gelten – der Schlitzer von Baltimore, ein Jack the Ripper des Buchwesens.

Miles Harvey nimmt den Fall nur als Ausgangspunkt einer Reise in die dunkle Vergangenheit der Kartografie und als Sprungbrett für Recherchen zum gegenwärtigen Stand des Themas, für die er Bibliotheken und Auktionen besucht, Händler und Restauratoren, Sammler und Psychologen. Im Mittelpunkt steht jedoch immer jener Gilbert Bland, der jedes Gespräch mit dem Autor verweigert hat und der sozusagen der weiße Fleck auf der Landkarte dieses Buches ist. Ein Niemand, dessen Identität von all den gestohlenen Karten verdeckt zu sein scheint, offenbar weniger ein Opfer seiner Leidenschaft als ein durchtriebener Betrüger, der im Stehlen von Karten ein risikoloses Geschäft entdeckte.

Man kann sagen, dass diese Konstruktion rund um einen Dieb ohne Eigenschaften nicht immer so tragfähig ist, wie es sich Harvey erhofft, aber das Thema ist vielschichtig genug, um das Interesse des Lesers wach zu halten. Und der Autor verlässt sich dabei nicht nur auf seinen journalistischen Spürsinn, sondern bringt durchaus auch eine persönliche Nähe zum Gegenstand mit. Und wie zur Legitimation erzählt er, wie ihn sein Vater früher bei langen Autofahrten auf dem Rücksitz des Wagens manchmal wachgerüttelt habe, um ihn zu fragen, in welche Himmelsrichtung sie unterwegs seien – und die Antworten des verschlafenen Kindes waren immer richtig. Der Mann findet sich also im Schlaf bei diesem Thema zurecht – und das ist bei den verschlungenen Wegen im Reich der Kartografie auch dringend nötig.

Es stellt sich heraus, dass die Geschichte der Kartografie von jeher eine Kriminalgeschichte war, nicht nur zu Zeiten von Kolumbus, als der Besitz (und Diebstahl) von Karten ganz handfeste Vorteile im Rennen um die Eroberung der Welt brachte, sondern auch heutzutage noch, wo man die Welt längst für vermessen hält. So erzählt Vera Benson von „American Map”, dass man dort so genannte trap streets in die Karten einbaue, um Konkurrenten überführen zu können, wenn sie das Copyright verletzen: „Wir platzieren diese Fallenstraßen in Gegenden, wo sie relativ harmlos sind und keinen Kartenbenutzer in die Irre führen können. Es sind nur Sackgassen am Ende einer Siedlung. Ich lasse meinen Wissenschaftlern freie Hand bei den Namen, sie dürfen sie nach ihrer Frau, ihrem Hund oder sonstwas benennen.” Aparter Gedanke jedenfalls, dass auf allen Stadtplänen irgendwo eine Straße eingezeichnet ist, die in Wirklichkeit gar nicht existiert – eine Fälschung, welche sozusagen die Echtheit der Karte beglaubigt. Diese Phantomstraße wäre dann die Heimat all jener topografischen Phantasien, die von Stevenson bis Conrad unsere Sehnsüchte geweckt haben.

Immer wieder führt Harvey seine Leser an den Punkt, wo Realität und Abbild auseinander klaffen und sich der Spalt dazwischen mit tragischen Schicksalen füllt. Sei es beim Bombardement Jugoslawiens, als die Nato versehentlich die chinesische Botschaft angriff; sei es bei der Flucht von 25 deutschen Kriegsgefangenen, die 1944 aus einem Lager in Arizona flohen, um in einem Boot über den Gila River in den Colorado und von dort nach Mexiko zu entkommen. Die letzten drei wurden gefasst, als sie ihr Boot im Gila River zu Wasser lassen wollten und feststellen mussten, dass die blaue Wasserstraße ihrer Landkarte in Wahrheit nur ein kleines Rinnsal war. Und als 1972 das Landsat-Programm der Nasa die Erde neu vermaß, fanden sich noch zwei unentdeckte Orte: eine Insel vor der kanadischen Atlantikküste, die Landsat Island genannt wurde, und ein Riff im Indischen Ozean, das noch nirgends verzeichnet war.

Mittlerweile ist nicht nur die Erdkugel bis in den letzten Winkel vermessen, sondern auch schon das menschlich Genom. Und womöglich ist es bald schon möglich, „das Land des Denkens zu erschließen, so wie die ersten Schiffe, die über den Ozean fuhren, den Globus erschlossen haben.” Miles Harvey denkt noch weiter und schließt mit dem Ausblick, „eines Tages werden komplizierte Wesen die Erde durchstreifen, die genauso unnatürlich sind wie die Geschöpfe, die sich einst an den Rändern der alten Karten und im Hinterland des menschlichen Geistes getummelt haben.”

Womöglich werden dann in diese Klone ebenfalls trap genes eingebaut, um das Copyright der Biotech-Konzerne zu schützen. Natürlich nur an Stellen, wo sie relativ harmlos sind und keinen Benutzer in die Irre führen können. Dann ist allerdings das Herz der Finsternis endgültig erreicht.

MILES HARVEY: Gestohlene Welten. Eine Kriminalgeschichte der Kartografie. Aus dem Englischen von Andrea Ott. Karl Blessing Verlag, München 2001. 350 Seiten, 42 Mark.

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