21. August 1997 | Süddeutsche Zeitung | Essay, Literatur | Filmlexika

Das Kino ist eine Scheibe

Können Filmlexika auf CD-ROM den Gang zum Regal ersparen?

Bevor wir uns auf die Zukunft stürzen, eins vorweg: Der Griff zum Buch ist immer noch schneller als der Zugriff auf irgendwelche Datenträger. Wen die lokale Amnesie hinterrücks befällt, der wird im Zweifelsfall immer noch erstmal zum Regal laufen. Die Frage, wer in einem bestimmten Film mitgespielt hat, läßt sich auf diese Weise, wenn man sonst noch alle Sinne beisammen hat, in gut dreißig Sekunden mit einem Film- oder Schauspielerlexikon klären. Wenn man erst den Computer einschalten muß, hat man schon vergessen, wonach man sucht. Und selbst dann dauert es noch zwischen 40 und 50 Sekunden, ehe die Programme gestartet sind. Alles weitere geht dann allerdings zugegebenermaßen leichter und schneller. Die Zukunft kann also beginnen.

Man braucht dafür einen Computer mit CD-ROM-Laufwerk und mindestens acht Megabyte Arbeitsspeicher. Dann kann man das Lexikon des internationalen Films oder Cinemania 97 starten und feststellen, daß zwischen den beiden ein Unterschied wie Tag und Nacht besteht. Das Lexikon basiert auf der gleichnamigen zehnbändigen Buchausgabe bei rororo, Cinemania hingegen ist eine Welt für sich. Die Kurzkritiken in letzterem stammen von Leonard Maltin, Roger Ebert und Pauline Kael, die im günstigsten Fall alle drei vorliegen; ersteres speist sich ausschließlich aus dem filmdienst, einem Organ der Katholischen Kirche. Davon darf man sich nicht verschrecken lassen, denn es garantiert zumindest Kontinuität und Vollständigkeit. Sämtliche Premieren von mindestens einstündigen Filmen im Kino, Fernsehen oder auf Video seit 1945 sind dort verzeichnet – 42 500 insgesamt. Daß die Beurteilungskriterien manchmal fragwürdig sind, läßt sich verschmerzen. Erstens sind sie konsequent, und zweitens wird sich keiner, der einen Horrorfilm nachschlägt, den Spaß von den Katholiken verderben lassen.

Cinemania bringt es nur auf knapp halb so viele Filmeinträge, und weil es ein Produkt aus den USA ist, sind sie zum einen in englischer Sprache verfaßt und zum anderen auf den amerikanischen Markt begrenzt. Was europäisches Kino angeht, ist Cinemania also nur brauchbar, wo es um europäische Welterfolge oder -stars geht. Zum deutschen Kino gibt es beispielsweise nur 309 Einträge, davon 54 aus den letzten zehn Jahren; und französische Filme kennt es nur 212. Das ist für den Ernstfall ein bißchen wenig. Aber das ist auch der einzige – wenngleich wesentliche – Nachteil. Der Rest stellt den deutschen Konkurrenten in jeder Hinsicht buchstäblich spielend in den Schatten.

Wo das Lexikon zur Begrüßung ein Kinofoyer vorgaukelt, das als symptomatisch für die phantasielose Präsentation gelten kann, da bietet Cinemania bei jedem Besuch Abwechslung. Es gibt jedesmal eine neue Quizfrage sowie zwei Photos: Hinter dem einen versteckt sich ein Schauspieler, hinter dem anderen eine Filmempfehlung. In beiden Fällen kann man sich verführen lassen, indem man sich zu den dazugehörigen Artikeln weiterklickt – und selbst wenn man das nicht tut, gibt es doch jedesmal was Neues zu sehen. Ein netter Einfall, der auf alle Fälle mehr mit Cinephilie zu tun hat als das gesichtslose Foyer der deutschen Variante, die bestimmt niemanden zum Träumen verführt. Die diversen Führungen durch Spezialgebiete aus der Welt des Kinos sind eher eine Dreingabe, die für die konkrete Benutzbarkeit keine Vorteile birgt.

Die Suchfunktionen sind ebenfalls bei den Amerikanern einfacher handzuhaben, und die Ergebnisse sind interessanter, weil neben den Filmographien oft auch noch Texte vorliegen. Bei beiden kann man nach einzelnen Worten in den Kurzkritiken suchen, was oft hilft, wenn man von Filmen weder Titel, noch Regisseur oder Schauspieler weiß; wobei die Tatsache, daß sich Cinemania aus fünf verschiedenen Lexika speist, doch deutliche Vorteile mit sich bringt.
Den größten Spaß bietet in beiden Fällen natürlich der Hypertext, mit dem die digitale Welt jenen Vorgang simuliert, den man bei Büchern Schmökern nennt. Hat man einen Film gefunden, kann man auf die Namen der Beteiligten klicken und deren Filmographien nachschlagen – und von dort geht es immer weiter, immer tiefer, ohne Ende. Die atemberaubendsten Verbindungen lassen sich auf diese Weise herstellen. Und das sind dann tatsächlich Abenteuer, die es auf Papier so nicht gibt.

Wo fürs Lexikon das Kino tatsächlich nur eine Scheibe ist, da hat Cinemania erkannt, daß die Welt rund ist. Es gibt nicht nur die Möglichkeit, jeden Monat aus dem Internet die Daten auf den neuesten Stand zu bringen, sondern auch immer wieder Querverweise auf entsprechende Homepages im Web. Wenn man also bei Cinemania auf Juliette Binoche stößt, kann man „Go online” anklicken und wird – sofern man ein Modem hat – zu den entsprechenden Seiten im Internet verbunden. Und dort gibt es dann wirklich alles Wissenswerte und noch mehr Nebensächliches über Juliette zu erfahren. Damit kann selbst ein großes, gut geführtes Zeitschriftenarchiv nicht mithalten. Und dort erfährt man dann auch, daß Binoche für den Englischen Patienten einen Oscar gewonnen hat, was die Updates von Cinemania seltsamerweise nicht leisten können oder wollen.

Diese Verbindungen hinaus ins Internet lassen natürlich von einem Lexikon träumen, das alles mit allem vernetzt: Wo nicht nur filmdienst oder Maltin/Ebert/Kael vertreten sind, sondern alle Kritiken aus allen Archiven der größeren internationalen Zeitungen. Und noch weiter, in eine noch fernere Zukunft: Wo alle Filme, auf die man stößt, verfügbar sind und in den Computer geladen werden können, von wo aus man sie dann auf eine Videoleinwand projiziert. Wenn man das Lexikon des internationalen Films ansieht, ist das noch ein weiter Weg – Cinemania macht das durchaus vorstellbar. Nicht nur, weil der alles verschlingende Branchengigant Microsoft dahintersteckt.

Man kann in Lexika natürlich auch nach Fehlern suchen, aber das sagt herzlich wenig über ihre Brauchbarkeit aus. Sollte es also auch hier Fehler geben – was wahrscheinlich ist –, so sind sie mir jedenfalls noch nicht begegnet. Die Hersteller freuen sich in jedem Fall über Hinweise. Für deutsche Benutzer gilt in jedem Fall: Cinemania ist unterhaltsamer, das Lexikon ist vollständiger. Im Idealfall hat man beide. Sonst hilft nur der Gang zum Bücherregal.

Lexikon des internationalen Films, 2. völlig überarbeitete Ausgabe 97/98, Systhema-Verlag, 149 Mark. / Cinemania 97, Microsoft, 69 Mark.

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