14. März 1998 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Rezension | Dora Bruder

Biographie: Kein Spiel

Patrick Modiano sucht ein Mädchen, das vor mehr als fünfzig Jahren verschwand

PATRICK MODIANO: Dora Bruder. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München 1998. 150 Seiten, 29,80 Mark.

Es beginnt mit einem Blick in die Bleiwüsten des Vergessens. Beim Durchstöbern alter Zeitungen stieß Patrick Modiano vor ein paar Jahren in der Silvesterausgabe 1941 des Paris-Soir auf eine Suchanzeige. Vermißt wurde ein 15jähriges Mädchen namens Dora Bruder. Ein paar Zeilen verraten, wie sie aussah, was sie anhatte, wo ihre Eltern wohnten: 41, Boulevard Ornano, Paris.

Vielleicht war es der fremde Klang des Namens, wahrscheinlicher die Adresse, die Modianos Aufmerksamkeit erregte. Jedenfalls hat er die Geschichte dieses Mädchens aufgeschrieben. Oder das, was von ihr übrig geblieben ist. Gierig hat Modiano alles aufgesogen, was er über sie auf Ämtern und Behörden noch in Erfahrung bringen konnte, und in dem wenigen, was die Geschichte preisgibt, hat seine Phantasie ihre Haken eingeschlagen, um daran die Biographie eines flüchtigen jüdischen Mädchens im Jahr 1942 aufzuspannen.

„15 Jahre, 1,55 m, ovales Gesicht, graubraune Augen, sportlicher grauer Mantel, weinroter Pullover, dunkelblauer Rock und Hut, braune sportliche Schuhe.” Unsere Vorstellungskraft reicht gerade aus, mit diesen spärlichen Angaben eine Schaufensterpuppe einzukleiden. Modianos Text ist ein einziger Versuch, dieser körperlosen Beschreibung Leben einzuhauchen, dieses flüchtige Bild eines Mädchens namens Dora Bruder vor dem geistigen Auge scharfzustellen. Und gerade die Vergeblichkeit dieser Anstrengung macht das Buch zu einem solchen Ereignis. Modiano schafft es, unsere Phantasie zu fesseln und einzuspannen in dieses buchstäblich trostlose Unterfangen, sich ein jüdisches Schicksal im besetzten Paris zu vergegenwärtigen.

Sackgasse des Erzählens

Dies ist eine Geschichte – und das ist wichtig – ohne Happy-end. Was für die Erzählung ein Glück bedeutet, weil der Suche nach Anhaltspunkten Erfolg beschieden ist, das war für Dora Bruder das Todesurteil. Modiano fand Doras Namen über dem ihres Vaters in der Liste jener, die am 18. September 1942 nach Auschwitz deportiert wurden. Das ist der Ort, heißt es nicht zu Unrecht, wo alles Erzählen in einer Sackgasse endet. Und genau dagegen stemmt sich dieses Buch an. Darin liegt seine Größe.

Patrick Modianos ganzes Schreiben ist eine so verzweifelte wie vergebliche Auflehnung gegen das Vergessen. Immer wieder kehrt er ins Paris der Okkupation zurück, in dem sich seine Eltern kennengelernt haben; immer wieder beschwört er seinen Vater, dessen flüchtige Figur seine Bücher prägt; immer wieder macht er sich auf die Suche nach einer verlorenen Zeit, deren Verlust immer nur auf sich selbst verweist. Gut zwanzig Bücher hat Modiano geschrieben, in denen sich diese Muster stets wiederholen, aber immer wieder neu und aufregend wirken.

Peter Handke hat in den Achtzigern Modiano fürs deutsche Publikum entdeckt. Suhrkamp hat einige Romane veröffentlicht, sich dann aber wieder abgewandt. Die letzten vier Bücher blieben unübersetzt – um so schöner, daß nun der Hanser-Verlag eingesprungen ist. Zumal Dora Bruder Ernst macht, wo bisher alles nur Biographie: Ein Spiel war.

Das mag daran liegen, daß Dora Bruder im Grunde ein Sachbuch ist. Das Mädchen hat es gegeben, ihr Leben hat wie ihr Tod tatsächlich stattgefunden. Der Erzähler ist also in diesem Fall zweifellos mit dem Schriftsteller selbst identisch. Schließlich hat Modiano vor ein paar Jahren in Libération einen sehr persönlichen Artikel über Serge Klarsfeld geschrieben, in dessen Mahnmal der Deportation der französischen Juden er Dora Bruders Namen gefunden hat. Diese Liste von 80 000 Namen ist sozusagen der Horizont, vor dem sich Doras Geschichte abspielt. Die Lektüre, schrieb Modiano, habe ihm einen der größten Schocks seines Lebens versetzt. Danach sei er ein anderer gewesen und habe plötzlich gewußt, woher „diese Empfindung der Leere herrührte, dieses Gefühl, sich dieser Welt nicht ganz zugehörig zu fühlen”.

Diese Empfindung der Leere bestimmt Modianos Bücher in der Tat von jeher, und deshalb ging es ihm stets darum, sie möglichst präzise einzukreisen, wenn nicht gar auszufüllen. So wie ihn in der Suchanzeige die Adresse zurückwirft auf eigene Erinnerungen im selben Viertel, so tauchen in seinen Texten geradezu zwanghaft immer wieder die Namen von Pariser Straßen, Hotels, Cafés oder sonstigen Örtlichkeiten auf. Er betet sie immer wieder nach, als ließe sich damit der Faden finden, der ihn aus dem minotaurischen Labyrinth seiner Erinnerungen ans Licht führen könnte. Seit Benjamin und Kracauer hat niemand so konsequent die Erfahrung der Großstadt in Erzählen umgesetzt. Seine ganz und gar topographische Phantasie verwandelt Stadtpläne, Telefonbücher und Namensregister in jenen Stoff, aus dem die Träume sind: „Und in der Nacht das Unbekannte, das Vergessen, das Nichts ringsum.”

Nach all den Selbsterkundungen ist Dora Bruder sozusagen die Probe aufs Exempel. Was läßt sich anhand einiger Details wirklich über ein Leben in Erfahrung bringen? Wie weit reicht im Ernstfall das Gedächtnis unserer Archive? Welche Geheimnisse bergen die Straßen, Häuser, Fassaden unserer Städte? Dahinter steckt die Sehnsucht, „daß wenigstens die Orte einen leichten Abdruck von den Menschen bewahren, die in ihnen gewohnt haben”. In Modianos Büchern, das ist das Tröstliche, erfüllt sie sich.

Der ewige Flaneur wandert immer tiefer in dieses finstere Reich aus Stein und Schatten, um eine Antwort auf die Frage zu finden, was Dora in den acht Monaten zwischen ihrem Verschwinden und der Deportation erlebt haben mag. Zwischen Internat, Präfektur und Internierungs-Lager entwirft Modiano ein Leben auf der Flucht, das er immer wieder mit eigenen Erlebnissen verknüpft. Das ist aber nicht die Anmaßung eines Nachgeborenen, sondern im Grunde die einzige Möglichkeit, mit der Vergangenheit Kontakt aufzunehmen. Das nennt man Identifikation: „So erscheint hinter der Stadt von heute in flüchtigen Spiegelbildern jene von gestern.”

Und hinter den Worten erscheint das flüchtige Spiegelbild von Dora Bruder: „Nie werde ich erfahren, womit sie ihre Tage verbrachte…Das bleibt ihr Geheimnis. Ein armseliges und kostbares Geheimnis, das die Henker, die Verordnungen, die sogenannten Besatzungsbehörden, das Dépôt, die Kasernen, die Lager, die Geschichte, die Zeit – alles, was einen erniedrigt und zerstört – ihr nicht rauben konnten.”

Ein mikroskopischer Blick auf ein Leben und eine Epoche – dahinter gähnen die Abgründe der Weltgeschichte. Patrick Modiano macht das Echo, das sich in den endlosen Weiten der Zeit verloren hat, hörbar. So ist auch sein Buch ein Mahnmal gegen das Vergessen geworden. Seine Dora mag flüchtig bleiben – von ihrem Gesicht haben wir am Ende doch ein scharfes Bild. Es ist unser eigenes. Das nennt man auch Identifikation.

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