06. März 1993 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Rezension | Dolores

Ein Leben bei Sonnenfinsternis

Stephen Kings neuer Roman "Dolores"

STEPHEN KING: Dolores. Roman. Aus dem Englischen von Christel Wiemken. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1993. 354 Seiten, 35 Mark.

Jedes Wort zählt. Und alles, was die Heldin fortan sagt, kann gegen sie verwendet werden. Denn sie sitzt auf der Polizeiwache von Little Tall Island, einer kleinen Insel vor der Küste von Maine, und wird des Mordes verdächtigt. „Ich verspreche euch“, gibt Dolores Claiborne ungerührt zu Protokoll, „daß ihr alles verstehen werdet, bevor ihr die Tür da aufmacht und das Zimmer verlaßt“. Und dann legt sie los und erzählt, eine Nacht lang, ein ganzes Leben lang. Und wenn die Tür dann aufgeht, weiß man, daß es kein Gefängnis auf dieser Welt gibt, das diese Frau noch schrecken könnte.

Das Leben ist ein Gefängnis bei Stephen King, und die Schlüssel sind gut versteckt. Alle seine Helden sind Gefangene, physisch oder psychisch, in einem verschneiten Hotel in den Bergen oder in den Irrgärten des Herzens. Sie sitzen in den Verliesen eines Fluchs oder ihres Wahns, sind gefangen in einer Ehe oder ihrem Körper. Je ahnungsloser sie sind, desto lauter fällt irgendwann hinter ihnen die Tür ins Schloß. Und plötzlich „fühlt sich die Welt so an, als wäre sie aus Glas“.

Dreißig Jahre lang war Dolores Claiborne Haushälterin von Vera Donovan, hat erlebt wie sie Witwe wurde und dann Pflegefall, hat ihre Grausamkeiten ertragen und ihren Wahnsinn. Jetzt ist ihre Arbeitgeberin tot, und alles spricht dafür, daß Dolores sie umgebracht hat. So geht es los: Eine Frau erzählt auf einem Polizeirevier zwei Beamten und einer Stenographin ihre Geschichte. Sie tut das nicht chronologisch, sondern fängt in der Mitte an, mit einem anderen Geständnis: Vor 29 Jahren habe sie ihren Mann umgebracht.

Ohne das Leben ist der Tod nicht zu erklären: Also holt Dolores weit aus und läßt sich auch von ihren mitunter ungeduldigen Zuhörern nicht aus der Ruhe bringen. Sie solle endlich zur Sache kommen, wird sie oft ermahnt, dabei tut sie das fortwährend. Denn nicht der Tod wird hier verhandelt, sondern ein Leben, ihr Leben: Zum einen die Ehe, bei der sie lange hoffte, daß die Liebe irgendwann „an die Oberfläche kommen würde wie Sahne in einer Flasche Milch“, um dann zu erkennen, daß Gewalt und Haß das einzige bleiben werden, was darin zutage tritt; zum anderen die Arbeit bei einer Frau, die ein Leben lang reizbar war „wie eine Löwin mit einem Dorn in der Pfote“. Es ist also kein Zufall, daß der Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens mit einer Sonnenfinsternis einhergeht.

Eine Biographie im Schatten entwirft Stephen King, aber auch eine Existenz, die nie den Respekt vor sich selbst verloren hat. Dolores war, das kann man immer noch hören, noch nie auf den Mund gefallen. Und trotzdem konnte sie nicht verhindern, daß irgendwann die Falle zuschnappt und sie die Gefangene ihres eigenen Schicksals wird.

Die große Produktivität und noch größere Popularität haben Stephen King zu einer Randerscheinung der amerikanischen Literaturgeschichte gemacht. Dabei liegt sein Werk direkt im Zentrum, schöpft aus dem Alltag und nährt sich von der Normalität. In gut 35 Romanen hat King so effektvoll wie präzise beschrieben, was dieses Land antreibt, und wie sich dieser Antrieb verselbstständigt. Die Objekte und Rituale des Alltags entwickeln ein Eigenleben, das die Helden zur Ohnmacht verurteilt. Die Bilder, die Amerika von sich selbst entwirft, umgeben sie wie Gefängnismauern: Ein Land sitzt in der Falle der eigenen Projektionen.

„Die Zeit“, sagt Dolores, „ist ein Stück Meer, genau wie das zwischen den Inseln und dem Festland, und die einzige Fähre, mit der man sie überqueren kann, ist die Erinnerung“. So pendelt die Erzählerin zwischen den Inseln und dem Festland dieser Geschichte, entwirft im steten Hin und Her ein Bild ihres Lebens und ist zugleich darin gefangen. Ihr Tonfall paßt sich dem Wellengang an, treibt manchmal leicht dahin und legt sich dann wieder ins Zeug, daß es nur so spritzt. Und wenn sie innehält, dann nur, weil sie findet, daß sie jetzt wirklich einen Schluck aus der Flasche verdient habe, die ihr Gegenüber in der Schreibtischschublade versteckt hat.

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