04. März 2000 | Süddeutsche Zeitung | Kunst, Rezension | Viel Lärm um nichts

Viel Lärm um nichts

Eine Ausstellung in München und Innsbruck beschwört die Hysterie als Motor der Moderne

Den Titel muss man sich auf der Zuge zergehen lassen: „Die verletzte Diva – Hysterie, Körper, Technik in der Kunst des 20. Jahrhunderts”. Hmmm . . . Das ist, wie man so sagt, eine Menge Holz. Klingt so, als hinge mal wieder alles mit allem zusammen. Der Blick in den Katalog bestätigt das auch fürs erste. Da wird der Bogen gespannt – vielleicht gar überspannt – von den psychiatrischen Studien des Neurologen Charcot über NS-Bücherverbrennungen bis zu Lady Diana. Autofahrten und Automaten, Puppen und Performance, Exzess und Kontrolle, Männlein und Weiblein – vor allem letzteres. Man sieht: In so einen Titel passt viel hinein – aber kommt dabei auch viel heraus?

Was erwartet man von so einer Ausstellung: Dass sie Belege für ihre Thesen findet. Dass sie vorführt, wieso die Hysterie ein Motor der Moderne sein soll. Dass sie veranschaulicht, worüber Hysterieforscher seit Jahrzehnten nachdenken. Wie verständlich muss eine Ausstellung sein, die sich eines komplexen Themas annimmt? Und wie komplex darf sie sein, wenn sie nicht nur von Hysterieforschern verstanden werden will? Mag ja sein, dass sich die Forschung generell gerne von ihrem Gegenstand entfernt hat oder sich in ihm verliert; Sinn einer Ausstellung wäre es, die Sache wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Man hat nicht den Eindruck, dass den Ausstellungsmachern daran übermäßig gelegen wäre – der Katalog hilft dabei ganz gewiss nicht. Wäre ja mal möglich, dass so ein Buch sich bemüht, seine Leser auf die Reisen in dunkles Gelände mitzunehmen statt irgendwo in der Ferne mit der Taschenlampe herumzufuchteln. Das wäre doch was: sich ausstrecken nach dem Leser, mit Lust vom Gegenstand erzählen, muss ja nicht gleich unter Niveau sein.
Man geht also vom Kunstbau beim Lenbachhaus zur Siemens-Rotunde und weiter in den Kunstverein und könnte dann auch noch nach Innsbruck fahren, wo das Taxispalais ebenfalls an dieser Ausstellung mitstrickt – man könnte aber genauso gut ins Haus der Kunst gehen und „Beauty now!” ansehen oder nach Düsseldorf in die Ausstellung „Ich ist etwas anderes”. Man könnte auch die Ausstellungstitel vertauschen – und im Zweifel würde es kaum einer merken. Es ist ja nicht so, dass man durch diese Ausstellungen geht und sagt: Aha, verstehe, so ist das also mit der Schönheit, der Identität, der Hysterie. Man begreift die Vieldeutigkeit moderner Kunst eigentlich nicht als Chance, sondern als Beliebigkeit. Cindy Sherman hängt hier wie da, Francis Bacon auch, Hannah Wilke ebenso, Pippilotti Rist sowieso. Kommt nur darauf an, welches Hütchen man darüber stülpt. Aber vielleicht bin ich da etwas hysterisch.

Die Hysterie also als Motor der Moderne im Allgemeinen und der modernen Kunst im Besonderen. So richtig benannt haben das vor allem die Surrealisten, die wie alle Revolutionäre zur Hysterie neigten. Man muss nur mal daran denken, wie André Breton alle Abweichler aus der Bewegung ausschloss oder wie sich Dalí als Diva inszenierte. Sie gefielen sich zweifellos in der Rolle der Hysteriker, begriffen die Hysterie aber dennoch ganz herkömmlich als vor allem weiblichen Zustand, der als poetisches Mittel eingesetzt werden könne. 1928 riefen die Surrealisten zu einer „Hundertjahrfeier der Hysterie” auf und Dalí merkte an, wie stark „die leidenschaftlichen Fotos einer Hysterischen” sie erregt hätten. Nicht umsonst lagen sie da auf einer Linie mit Freud, dem Säulenheiligen ihrer Bewegung.

Kein Wunder, dass ihnen in ihrem Drang, das Unterbewusste anzuzapfen und für ihre Kunst nutzbar zu machen, die Art gefiel, wie bei hysterischen Anfällen das Innerste nach Außen gestülpt wird, wie sich auf dem Körper abzeichnet, was im Inneren tobt, eine besonders drastische Form der écriture automatique, bei der sie aufzuschreiben versuchten, was ihnen gerade durch den Kopf ging. Und in der schamlosen Art, wie sie sich dieser Krankheitsbilder für ihr ästhetisches Programm bedienten, kamen sie sich durchaus etwas unmoralisch vor – umso besser.

Das Eigenleben der Objekte war ihre Sache, die leblose Welt zu beseelen, eine neue Hierarchie der Wahrnehmung zu begründen. Genau deswegen begeisterten sie sich für die Hysterikerinnen, die in ihrem plötzlichen Wechsel von Krämpfen und Starre wie Aufziehpuppen wirkten, entrückt, ekstatisch, außer sich, nicht mehr sie selbst. Konvulsivische Schönheit nannten das die Surrealisten, und man ahnt, was sie meinten, wenn man sich im Kunstbau die Installation von Douglas Gordon ansieht, der auf zwei Leinwänden einen alten Filmausschnitt zeigt, in dem ein Professor und sein Assistent eine Hysterikerin bei einem Anfall vorführen. Die Dame greift sich mitten im Gespräch plötzlich an den Hals, wird von einer unsichtbaren Kraft nach hinten auf ein Bett geworfen, wo sie in ihren Zuckungen von den Männern nur mit Mühe gebändigt werden kann. Als sie dann in Starre verfällt, wird sie vom Professor so lange geschüttelt, bis sie ihre nächste Attacke erleidet, als wäre sie eine Puppe, deren Mechanismus klemmte.

Eine eigenartig berührende, unergründliche Szene ist das, weil man vergeblich versucht, sich in diesen Spalt zwischen Realität und Fiktion zu zwängen, den die Anwesenheit der Kamera eröffnet. Der Nervenarzt führt den Anfall vor, als handle es sich um ein Kunststück, um eine Performance. Und von hier aus tut sich dann auch ein Weg auf zu den anderen Videoarbeiten von Nauman, Rist, McCarthy oder den Fotos von Cindy Sherman. Dieser Ernst, mit dem sie ihren Verrichtungen oder Posen nachgehen, und bei dem man vergeblich nach jenem Augenzwinkern Ausschau hält, das zu unserer Beruhigung beitragen würde: Alles nur ein Spiel. Und tatsächlich hat man auch da den Eindruck, einem Anfall beizuwohnen, einem jener Momente, in denen der Küstler zulässt, dass sich sein Innerstes Bahn bricht und sein Körper sich einer fremden Macht unterwirft – und sei es der des eigenen (oder gesellschaftlichen) Unterbewussten. Die Verstörung ist immer wieder immens, weil man nicht glauben kann, dass jemand den Betrachter bei so etwas Intimem beiwohnen lässt.

Da wäre eine Verschränkung zwischen der realen (natürlich durch Gordon gestalteten) Hysterikerin und den auf diese Weise hysterisierten Kunst-Performances ganz hilfreich gewesen – das eine ist aber im Kunstbau, die anderen sind im Kunstverein. Als wolle man unter keinen Umständen das Geflecht der Vieldeutigkeiten durch allzu eindeutige Bezüge zerstören. Wenn man aber nun schon mal ein Thema hat, dann läge genau darin die Spannung und nicht jener vermeintlichen Offenheit, in der alles mit allem zusammenhängen soll. Wenn schon hysterisch, dann bitte richtig.

Hysterie ist in der Tat ein männliches Konzept und insofern als Muster auf viele Entwicklungen der Moderne anwendbar. Mit Hysterie bezeichnete man seit der Antike all jene weiblichen Zustände, für die man keine Erklärung hatte. Man ging davon aus, dass das ganz generell etwas mit der Gebärmutter zu tun haben müsse. So sperrte man das Unfassbare der Frau in ein Krankheitskorsett und leugnete rund heraus, dass auch Männer hysterisch sein könnten. Nicht mehr Herr des eigenen Körpers sein – unvorstellbar. Genau das ist es aber, was schon passiert, sobald man nur eine Kamera auf einen Körper richtet: Die Identität löst sich auf, Entgrenzung findet statt, der Körper öffnet sich für die Träume der anderen. So gesehen haben nicht nur die Surrealisten das Konzept genutzt, sondern die ganze moderne Kunstgeschichte, ja, die ganze Moderne überhaupt. Das ist aber genau der Punkt, wo die Sache schwammig wird, wo auf einmal alles und jedes unter einen Hut passt.

Oder besteht der Sinn einer Ausstellung genau darin, den Blick in alle Richtungen zu öffnen? Wenn man die Besucher auf diese Reise mitnehmen mag – vielleicht.

Der Titel „Die verletzte Diva” ist einem Buch über die unlängst verstorbene Schauspielerin Hedy Lamarr entlehnt, die den ersten Nacktauftritt der Filmgeschichte (1933 in „Extase”) für sich beanspruchen kann und dann in Hollywood zur Diva erstarrte, obwohl sie auch als Erfinderin einiges auf die Beine gestellt hatte. Das Patent fürs so genannte frequency hopping, das noch heute für Mobiltelefone genutzt wird, passte natürlich nicht ins Bild der Diva, das wie die Hysterie einem männlichen Blick entspringt. Wie die Frauen dem unterworfen wurden, wie sie sich in der Kunst davon emanzipiert haben und dabei auch Männern einen Rollentausch ermöglicht haben – das ist so ungefähr das Thema dieser Ausstellung. Aber das muss man sich schon selbst erarbeiten.