02. August 1997 | Süddeutsche Zeitung | Kunst, Rezension | Deep Storage – Arsenale der Erinnerung

Ich kenne jemanden, der nie ans Telefon geht und alle auf dem Anrufbeantworter eingehenden Anrufe auf Cassetten sammelt: Privates und Geschäftliches, Beiläufiges und Wichtiges, einfach alles. Am Ende wird nichts übrig bleiben als Stunden und Aberstunden von Cassetten mit fremden Stimmen. Das ist vielleicht keine Kunst, aber es läßt sich daran ganz gut darstellen, worum es beim Sammeln und also auch bei dieser Ausstellung im Haus der Kunst geht.
Würde sich jemand die Mühe machen, all diese Bänder tatsächlich abzuhören, würden sich die Anrufe wie eine löchrige Gußform ums Leben des Angerufenen legen, der selbst nur durch seine Abwesenheit vertreten ist. Im Schnittpunkt all dieser auf denselben Mittelpunkt zielenden Anrufe würde dann diese Person aufscheinen – nichts als ein Abdruck im Schnee der Zeit.

Darum geht es beim Sammeln, Speichern, Archivieren unter anderem: Um den Wunsch, man möge erkannt werden. Das betrifft nicht nur den einzelnen Sammler, der sich hinter seiner Anhäufung von Objekten versteckt, sondern auch ganze Kulturen. Eine Gesellschaft, die Museen, Bibliotheken, Archive anlegt, tut das auch in der Absicht, von kommenden Generationen darin erkannt zu werden, sich in ihren Sammlungen zu spiegeln – sei es in der Schnitt- oder in der Gesamtmenge.

Was den Sammler des weiteren umtreibt, ist das Bedürfnis, dem Leben eine Ordnung zu verleihen, die es sonst nicht hat. Gegen die Unübersichtlichkeit des Alltags, gegen das Chaos der Emotionen und Beziehungen, wird die scheinbare Ordnung der Sammlung gesetzt. Wobei die Ruhe trügerisch ist: Denn nie ist eine Sammlung so komplett, perfekt und umfangreich, wie sie sein sollte oder könnte. Denn zwar will der Sammler die Welt im Kleinen wiedergeben, aber die Bescheidung ist seine Sache nicht – am Ende mündet alles in einen Wahn: nichts zu übersehen, nichts auszulassen, nichts zu vergessen. Man könnte das Alzheimers Wahn nennen.

Alles Sammeln drängt danach, die Welt zu verschlingen. Wie die Landkarte in der Erzählung von Jorge Luis Borges, die im Ende das Land, über das sie eigentlich einen Überblick geben soll, vollständig zudeckt. Der Traum eines jeden Sammlers ist die Vollständigkeit – aber sie ist auch sein Alptraum. Denn was bliebe dann noch zu tun. Deshalb liegt eine große Melancholie über allen Sammlungen, Archiven, Depots – und über dieser Ausstellung.

Wie geht die Kunst mit diesem Thema um, fragt die Ausstellungsmacherin Ingrid Schaffner. Film und Literatur, die dazu auch einiges zu sagen hätten – man denke nur an Greenaways fiktive Ordnungen, an Ecos Bibliothek oder Fahrenheit 451, wo die Bücher nur noch Erinnerungen sind –, läßt sie links liegen. So schlägt sie durch das Labyrinth dieses Themas eine Schneise, die immer noch genügend Verzweigungen und Verästelungen birgt. Zur Illustration hätte man den Rundgang im Depot des Museums beginnen lassen sollen, wo das Thema ordentlich verpackt an den Wänden lehnt.

Natürlich ist dieser Aspekt auch bedacht worden. Sei es in Louise Lawlers Photos aus den Depots der Welt, sei es in Richard Artschwagers Skulpturen, die aus hölzernen Transportkisten bestehen. Kurioserweise werden diese wiederum in nahezu identischen Transportkisten von Ausstellung zu Ausstellung befördert. Daraus kann man schon ersehen, daß man in dieser Welt schnell vom Hundertsten ins Tausendste kommt und sich in der Ausstellung leicht so vorkommt wie vor diesen russischen Holzpuppen, die beim Öffnen immer weitere Puppen freigeben. Aber in diesem Fall gibt es keinen Kern, zu dem man vordringen kann: Wie beim Sammeln auch ist nur der Weg das Ziel.

Der Fluß des Vergessens

Man betritt die Ausstellung über einen der Holzstege von Karsten Bott, der auf dem Boden darunter sein Leben ausgebreitet hat – oder zumindest das, was davon dingfest gemacht werden kann. So entsteht der Eindruck, man überquere die Lethe, den Fluß des Vergessens, auf dem das Treibgut des Lebens herumschwappt.

Die Kunst, das kann man vielleicht so sagen, hält dem Thema einen Zerrspiegel vor und macht es kenntlich. Die meisten Künstler äffen die Sammelwut nach, karikieren die Leidenschaft und schneiden den Sammlern eine Fratze. Wobei der Grat zwischen dem Gegenstand und seiner Verzerrung, zwischen dem Ernst des Sammelns und dem Unsinn der Sammlung, naturgemäß ziemlich schmal ist. Schließlich ist jede Sammlung ohnehin schon eine Art Karikatur der Welt.
Es gibt zwar fast keinen Gegenstand, der zu abseitig wäre, als daß er nicht gesammelt oder archiviert würde, aber die Kunst schafft es immer noch spielend, der Sache sozusagen die Krone aufzusetzen. Douglas Blau veröffentlicht etwa das umfangreiche Register eines Buches, das nicht existiert; Reinhard Mucha stellt einen Schaukasten aus, der nichts zeigt; Piero Manzoni hat 1961 seinen Stuhlgang in 88 Dosen konserviert: „Artists Shit”; und Wilhelm Mundts Trashstones bergen den mit Kunststoff überzogenen Ateliermüll des Künstlers. Allerorten wird in den Ateliers das Nichts oder das Nichtige gesammelt und gespeichert, klassifiziert und archiviert, so daß die Muster sichtbar werden, mit denen unsere Welt überzogen ist.

Allein Warhols Hinterlassenschaft besteht aus 2000 Kubikmetern Material, die in Kartons, sogenannten Time Capsules, im zweiten Stock des Warhol-Museums in Pittsburgh lagern, geöffnet und katalogisiert werden. 610 Zeitkapseln, die der Künstler Monat für Monat mit subjektiv Erinnernswertem (also mehr oder minder belangvollen Souvenirs) füllte. Der Inhalt einer frisch geöffneten Kapsel wird, heißt es, zwei Monate lang ausgestellt. Wer mag da schon zwischen Sinn und Unsinn unterscheiden?

Dies ist zweifellos der rechte Zeitpunkt, um sich mit den Arsenalen der Erinnerung zu beschäftigen, denn wohin man auch ruft, schallt das Echo dieses Themas zurück. Zum einen befinden wir uns am Übergang von der Wegwerfgesellschaft zur Recycling Society; zum anderen an der Schwelle zwischen analogen Archiven und digitaler Datenverarbeitung. Wie ändert sich die Welt, fragt man sich, wenn all die Texte und Bilder, die in Museen und Bibliotheken gespeichert werden, wenn all diese Zahlen, Daten, Fakten nur noch als Ströme und Spannungen, als elektrische oder magnetische Felder existieren? Wenn der archivarische Alpdruck des ständigen Platzmangels ersetzt wird durch das Grauen der totalen Verfügbarkeit? Kann dann wirklich jeder, wie Geoffrey Batchen im Katalog fragt, Kurator seines eigenen Museums werden?

Irgendwann wird das Gedächtnis der Welt im Internet verfügbar sein, und irgendwann wird man im Cyberspace durch den Louvre wandeln und mit der Datenbrille auf eine Mona Lisa blicken können, die dem Original aufs Haar gleicht – alles nur eine Frage von Datenmengen und der Geschwindigkeit ihrer Verarbeitung. Und wenn man dann mit dem Datenhandschuh nach dem Lächeln greift, wird kein Wächter kommen und einem auf die Finger klopfen. (Bill Gates wird allerdings die Rechnung schicken. ) Es wird eine Illusion sein – aber was ist die Welt anderes?

Auch dieser Text wird nach Lektüre auf einen Speicherplatz schrumpfen, wo er bis zum Ende der Welt schläft und von Lesern träumt. Am Ende ist der Mensch doch nur ein Phantom in den Arsenalen der Erinnerung.

(Die Ausstellung ist bis zum 12. Oktober im Haus der Kunst zu sehen; danach in Berlin, Düsseldorf und Seattle. Der lesenswerte Katalog kostet in der Ausstellung 49 und im Buchhandel 98 Mark.)
MICHAEL ALTHEN

KARTOGRAPH DER ERINNERUNG: Als der Kartenkatalog der Los Angeles Central Library aufgelöst wurde, hat der Künstler David Bunn zugegriffen. Seither stellt er die darauf verzeichneten Buchtitel zu immer neuen Gedichten zusammen. Daß Bunns Archiv wie ein Kunstwerk von Christian Boltanski aussieht, ist eine andere Geschichte.

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