08. Dezember 2000 | Süddeutsche Zeitung | Kunst, Rezension | Au-delà du spectacle

Schluss mit Lustig

Eine Ausstellung im Pariser Centre Pompidou fragt: Wo hört der Spaß auf, wo fängt die Kunst an?

Wenn wir genau hinhören, was uns die Kunst der Gegenwart sagen möchte, dann wäre es vielleicht dies: Warum kompliziert, wenn es auch einfach geht. Zumindest könnte darin ihr Auftrag bestehen: das Chaos der Welt auf einen Nenner zu bringen, in die Unübersichtlichkeit des Lebens Schneisen zu schlagen. Deshalb liebt die Kunst die Abkürzung, den Kurzschluss, die pfiffige Geste. Man steht im Museum, und plötzlich fällt es einem wie Schuppen von den Augen, was es mit der Gegenwart auf sich hat. Wäre doch schön, wenn es so wäre.

Ganz so leicht macht es uns die Kunst dann leider doch nicht, und wenn sich im Pariser Centre Pompidou eine Ausstellung unter dem Titel „Au-delà du spectacle” damit beschäftigt, wie sich die Kunst im letzten Vierteljahrhundert ihren Reim auf das gemacht hat, was wir Entertainment nennen, dann lautet die Losung eher: Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht. Der Besucher steht vor der Aufgabe, all die witzigen Posen, die Vergröberungen und Vereinfachungen zurück zu übersetzen in komplexe Denkansätze und die Grenzen gegebenenfalls selbst zu ziehen. Das hat das Reden über die Kunst so erschwert: dass die reine Anschauung selten genügt. Oder, um etwas konkreter zu werden: Selten hatte man in einer Ausstellung so stark das Bedürfnis, auf den Tafeln an den Ausstellungswänden nach verwertbaren Informationen zu suchen. Im Grunde verhält es sich mit der modernen Kunst wie mit Medikamenten – ohne Beipackzettel ist man völlig ratlos, wie man mit ihr umgehen soll. Bei Fragen wenden Sie sich an Ihren Galeristen oder Kurator . . .

Die Lösung ist natürlich nicht, den Kunstverächtern das Wort zu reden, aber man muss schon mal darauf hinweisen dürfen, das sich die Kunst nach wie vor auf einem verdammt schmalen Grat bewegt, wo auf der einen Seite der Abgrund der hysterischen Beschwörung droht und auf der anderen Seite die gähnende Leere des Desinteresses. Man muss heutzutage schon sehr genau auf die leisen Erschütterungen der Gefühle horchen, wenn man solche Ausstellungen mit Gewinn verlassen will. Aber vielleicht liegt ja darin das Spannende an der Kunst, dass sie uns lehrt, den Überwältigungsmechanismen des Entertainments zu widerstehen und in uns selbst hineinzuhorchen.

Philippe Vergne, der Kurator der Ausstellung, die bereits im Frühjahr unter dem Titel „Let’s entertain” in Minneapolis zu sehen war, hat vor allem Klassiker der Gegenwart versammelt: Cindy Sherman, Andy Warhol, Jeff Koons, Duane Hanson, Dan Graham, Mike Kelley, Paul McCarthy, Richard Prince . . . Und doch lässt es sich nicht vermeiden, dass man hier über den Dächern von Paris immer wieder wie der Ochs vorm Berg steht. Vielleicht aber ist der Zweifel nicht die schlechteste Herangehensweise.

Nehmen wir ein Beispiel: Douglas Gordon ist ein Künstler, dessen Werke sich so schlüssig wie kaum andere mit unserer Beziehung zur Unterhaltungskultur auseinandersetzen. Der Mann hat in „24 Hours Psycho” Hitchcocks Thriller durch Zeitlupe auf 24 Stunden gedehnt, hat in „Words and Pictures” die Filme versammelt, die in den neun Monaten vor seiner Geburt im Jahre 1966in Glasgow zu sehen waren, und hat in „Something Between Your Mouth and My Ear” ein ähnliches Konzept mit Musikstücken realisiert, das nun auch in Paris zu sehen ist. Lauter fabelhafte Ideen, bedenkenswerte Ansätze, großartige Projekte – aber wahrscheinlich sagt man nicht zu viel, wenn man behauptet, dass noch nie jemand sich eines seiner Werke in voller Länge zu Gemüte geführt hat.

Bedeutet das nun, dass Gordon in der Konzeption stärker als in der Realisation ist? Man steht also davor, macht sich seine Gedanken – aber der Verdacht ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass sich die Kraft seines Werkes fast mehr in der Beschreibung als in der Anschauung vermittelt. Man muss es nicht gesehen haben, um es sich vorstellen zu können. Andererseits liegt ja womöglich genau darin sein genialer Umgang mit dem Thema, das diese Ausstellung formuliert. Wie gehen wir mit den vorgefertigten Mustern der Unterhaltungskultur um? Was können sie uns über uns selbst erzählen? Inwiefern haben diese Filme unser ganzes Sein in eine Form gebracht? Womöglich liegt in diesem Prozess der Entfremdung eben doch etwas Eigenes.

Und außerdem: Wer sagt uns, wenn die korrekte Verweilzeit vor „24 Hours Psycho” 24 Stunden beträgt, wie lange man eigentlich vor einem Rembrandt, Picasso oder Beuys stehen muss, um ihren Werken Genüge zu tun? Je länger man nachdenkt, desto interessanter wird dieser Gedanke. Wie viel Minuten muss man veranschlagen, um „Les Demoiselles d’Avignon” ähnlich komplett zu erfassen wie ein Werk von Douglas Gordon – drei, sieben, zwölf? Oder doch mehrere Stunden? Womöglich liegt ja das ganze Drama der Gegenwartskunst – und auch ihre Kraft – in dieser Frage. Was das angeht, sind 24 Stunden wirklich kein Tag.

Ein anderes Beispiel: Paul McCarthys Installation „The Bunkhouse”. Auf Schienen steht eine knallrot angemalte Hütte, in der vier Puppen ihr Unwesen treiben. Zwei liegen im Stockbett, zwei befinden sich in der Mitte. Die eine mit einem Hundegesicht vögelt im Stehen einer knienden Nackten mit einem metallenen Bolzen ins Auge. Man könnte dafür vielleicht auch gesetztere Worte finden, aber das ist das, was passiert. Das Ganze ist eine Peepshow auf Rädern, und man kann nicht leugnen, dass man sich beim Versuch, hinter das Geheimnis dieses Arrangements zu kommen, wie ein Voyeur fühlt. Dass es sich um Puppen handelt, nimmt der Sache nichts von ihrer Perversion. Natürlich ist das genau der Punkt an der ganzen Unterhaltungskultur: Wir nehmen das Unechte für wahr – Licht und Schatten auf der Leinwand halten wir ja auch für ein Abbild der Realität.

Man fragt sich, welches Selbstvertrauen, welche Entschlossenheit einen Künstler auf ein solches Szenario bringt. Wenn man bedenkt, wie lange es dauert, diese rote Hütte zu bauen, das Hundegesicht zu modellieren, den ganzen Mechanismus des Ins-Auge-Vögelns zum Laufen zu bringen, kann man nicht umhin, den Mut zu bewundern, die Unbeirrtheit. Was sagt der Mann seinen Eltern, seinen Freunden, wenn sie ihn fragen, woran er arbeitet? „Ich baue gerade eine Hütte, in der ein Hund jemandem das Auge herausvögelt!” Oder findet er abstrakte Worte, bei denen alle einverständig nicken? Ja, klar, Voyeurismus, Geschlechterdebatte, Obszönität, der Lauf der Welt . . . Womöglich hat es seinen Grund, warum diese Arbeit im amerikanischen Katalog ausgespart wurde – in Übersee ist man dafür einfach noch nicht bereit.

McCarthys zweite Arbeit heißt „Documents” und versammelt Fotos von Walt Disney und Adolf Hitler, die zusammen mit Pornofotos unkommentiert nebeneinander stehen. Man kann nicht genau sagen, welche Schlüsse sich daraus ziehen lassen, außer dass der Totalitarismus dem Entertainment-Konzept Disneys irgendwie nicht unähnlich ist. Natürlich ist das einer der Kurzschlüsse, mit denen es sich die Kunst immer zu leicht zu machen scheint, aber womöglich geht man mit der vermeintlichen Fahrlässigkeit solcher Verkürzungen anders um, wenn man sich vor Augen hält, mit welchen Überwältigungsstrategien die Unterhaltungsindustrie unser Unterbewusstsein kolonialisiert hat, von den Kinderfernsehkanälen bis Las Vegas. Das Falsche erscheint als das Wahre, und man kann es der Kunst nicht verdenken, wenn sie zu drastischen Maßnahmen greift.

Im Grunde kämpft die Kunst auf verlorenem Posten. Sie bedient sich der Filme, Comics, anderer populärer Mythen, um ihre Haut zu retten. Könnte also sein, dass es sich lohnt, intensiver in sich hineinzuhorchen, sich zu prüfen, ehe man sich für immer verloren gibt. Schließlich darf man nicht unterschätzen, dass das Entertainment uns immer einen Schritt voraus ist. Man muss sich nur mal Jeff Koons’ Plastik von Michael Jackson und seinem Affen Bubbles ansehen. Das Image solcher Ikonen besteht aus so viel Schichten, dass der ironische Impetus von Koons bestenfalls die äußerste Haut durchdringen kann. Das Entertainment ist mittlerweile eine verdammte Zwiebel – wer sich ans Schälen macht, dem steigen die Tränen ins Auge. Ob er will oder nicht.

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