15. Oktober 2003 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Das Wunder von Bern

Die Wahrheit liegt auf dem Platz

Durchgehalten: Sönke Wortmanns Film DAS WUNDER VON BERN gelingt erst in der Verlängerung

Als Robert Stemmle 1942 den Fußballfilm DAS GROSSE SPIEL drehte, war Sepp Herberger als Berater tätig. Er legte als ideale Abfolge für ein dramatisches Endspiel fest, daß der Gegner erst zwei Tore vorlegen müsse, ehe die eigene Mannschaft Anschluß, Ausgleich und Siegtreffer schaffe. Wie man weiß, war es genau diese Torfolge, die 1954 beim Endspiel in Bern für solche Dramatik sorgte. Die Deutschen, die noch in der Vorrunde den Ungarn mit 3:8 unterlegen waren, besiegten die seit viereinhalb Jahren ungeschlagenen Favoriten mit 3:2. Seinen legendären Ruf verdankt das Endspiel aber natürlich nicht nur der glücklichen dramaturgischen Fügung, sondern vor allem der Tatsache, daß sich die Deutschen zum ersten Mal seit dem Krieg wieder so etwas wie Nationalstolz erlauben durften.

Was die Legende außerdem befördert hat, war der Umstand, daß es zwar eine Fernsehübertragung gab, jedoch kaum jemand einen Fernseher besaß und die Aufnahmen auch nicht aufbewahrt wurden. So verfolgten die Deutschen das Geschehen überwiegend am Radio, und es war auch Herbert Zimmermanns berühmte Radioreportage, die später über den eigentümlich hölzernen Zusammenschnitt der entscheidenden Szenen gelegt wurde. Von den neunzig Minuten existieren heute nur noch achtzehn im Bild; das restliche Material wurde offenbar bei einer Lagerräumung der Essener Sportfilmfirma, welche die Rechte an den Filmaufnahmen hatte, in den fünfziger Jahren vernichtet. In aller Welt wurde nach weiteren Filmschnipseln gefahndet. Zuletzt sind sogar Farbaufnahmen aufgetaucht, aber die Lücken sind immer noch groß genug, um der Imagination jenen Raum zu lassen, in den das Kino mit seinen Fiktionen stoßen kann.

Sollte Sönke Wortmanns Film DAS WUNDER VON BERN ein Erfolg werden, dann hätte er ihn sich redlich verdient. Denn auch wenn das Thema zwingend erscheinen mag, ist seine Aufbereitung fürs Kino ein mehr als riskantes Unterfangen. Fußball und Film sind noch nie glückliche Verbindungen eingegangen, am allerwenigsten an der Kinokasse. Anders als Sportarten wie Baseball, bei denen die Kamera immer wieder auf die eindeutige Grundsituation von Werfer und Schläger zurückgreifen kann, die dem Mythos vom Duell entspricht, scheint sich das Fußballspiel der filmischen Umsetzung zu entziehen. Man hat allerdings den Eindruck, daß das eher am mangelnden Mut der Regisseure liegt als an einer tatsächlichen Unvereinbarkeit der Formen. Schließlich hat sich jeder Fußballfan in seiner Kindheit in jene spielentscheidenden Situationen hineingeträumt, die von derselben Personalisierung leben wie entsprechende Szenen aus Baseballfilmen.

Es ist womöglich leichter, einen amerikanischen Schauspieler zu finden, der glaubhaft einen Baseball werfen kann, als einen deutschen Mimen, dem man den Fußballspieler abnähme. Als einst für DAS GROSSE SPIEL der entscheidende Schuß in den Torwinkel gedreht werden sollte, trat der Schauspieler so oft daneben, daß sein einziger Treffer im Film letztlich auch nicht verwendet werden konnte, weil alle 22 Spieler auf dem Feld vor Erleichterung über den endlich gelungenen Schuß gejubelt hatten. Sönke Wortmann war also klug genug, den Spieß umzudrehen: Er suchte nicht Schauspieler, die auch Fußball spielen können, sondern Fußballer, die auch als Schauspieler eine passable Figur machen würden. Daß sie am Ende tatsächlich eher durch ihre fußballerischen als ihre schauspielerischen Fähigkeiten überzeugen, stört insofern nicht, als man ja gewohnt ist, daß Fußballer außerhalb des Platzes auch im Fernsehen eher hilflos agieren.

Sönke Wortmann hat selbst tatsächlich einmal durch sein einziges Saisontor die SpVgg Erkenschwick in die Zweite Liga geschossen, ehe er sich dem Kino zuwandte. Er weiß also genau, wovon er redet, und kennt die Probleme, die Fußballfilme als Genre aufwerfen. Es war ihm deshalb auch klar, daß sich die Atmosphäre im Berner Wankdorfstadion nicht mit einer Handvoll Komparsen nachstellen ließe, weil man sie mit der Kamera doch nie so einfangen kann, daß nicht die leeren Ränge um sie herum spürbar würden. Also hat Wortmann die Fußballszenen bei einer Firma für Rollrasen gedreht und die Zuschauer erst hinterher digital einkopieren lassen, was tatsächlich lebendiger wirkt als alle anderen filmischen Verlegenheitslösungen. Was die fußballerische Seite angeht, ist DAS WUNDER VON BERN also durchweg gelungen, auch weil es den Spielern gelingt, die etwas behäbigere Spielweise der fünfziger Jahre präzise nachzuahmen. Und wenn Sascha Göpel als Helmut Rahn das entscheidende Tor schießt, kann man sich genausowenig der Tränen erwehren, wie das vor fünfzig Jahren gewesen sein mag.

Wenn am Ende das Resultat stimmt, neigt man beim Fußball dazu, etwaige Schwächen gnädig zu vergessen. Im Kino gelingt das naturgemäß weniger gut. Deshalb muß man feststellen, daß die Dialoge in Wortmanns Film manchmal ebenfalls so wirken, als hätte eine Drehbuch-Software sie in die Handlung einkopiert. Aber womöglich ist es gerade das Holzschnittartige der Rahmenhandlung, was die Fußballszenen und das Endspiel selbst so zur Wirkung bringt. Die Geschichte vom kleinen Jungen, der Helmut Rahn die Trainingstasche tragen und sein Glücksbringer sein darf, funktioniert insofern ganz gut, als DAS WUNDER VON BERN ja nicht von der Innenansicht einer Mannschaft allein erzählen, sondern die Außensicht auf deren Leistung nacherleben lassen will. Und auch die Tatsache, daß der Vater (Peter Lohmeyer), der gerade erst aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt ist, und der Sohn (besetzt mit Lohmeyers Sohn Louis Klamroth), der seine Existenz einem Fronturlaub des Vaters verdankt, erst über den Fußball zusammenfinden, hat etwas Bezwingendes, weil dieses Einverständnis ohne Worte zu bewerkstelligen ist. Aber sobald sie den Mund aufmachen müssen, wirken auch die Schauspieler oft wie Fußballer, die nach dem Spiel ihre Standardsätze aufsagen.

Wortmanns Taktik, im Fußballereignis die Situation des Landes zwischen Kriegsheimkehr und Wirtschaftswunder zu spiegeln, ist schon richtig – aber nicht immer befindet sich der Film spielerisch auf der Höhe seiner Absichten. In den neunzig Minuten, die ein Spiel dauert, tut sich der Film eher schwer; erst in der halben Stunde Verlängerung, die DAS WUNDER VON BERN sich gönnt, geht die Rechnung auf. Insofern gleicht der Film durchaus der Mannschaft, von der er erzählt: Es braucht taktische Disziplin, schnörkelloses Spiel und eisernen Durchsetzungswillen, damit der Sieg gelingt. Wenn dann am Ende der Sonderzug mit den Siegern durch Deutschland fährt und eine Einblendung mitteilt, die Elf von Bern habe nie wieder zusammen gespielt, dann bekommt man eben doch eine Gänsehaut.

Sönke Wortmann fühlt sich ohnehin immer dann am wohlsten, wenn er seiner Liebe zum Spiel Ausdruck verleihen kann – wenn er etwa den 6:1-Halbfinalsieg gegen Österreich gegenschneidet mit den kleinen Jungen im Ruhrgebiet, die das Spiel mit ihrem Lumpenball auf dem Bolzplatz nacherleben. Besser als irgendwo sonst wird da sichtbar, wie das Große und das Kleine zusammengehen, wieviel die Trümmerärmlichkeit mit dem Fußballgeschehen in der Schweiz zu tun hatte.

Auch für DAS WUNDER VON BERN gilt also die eiserne Fußballregel: Die Wahrheit liegt auf dem Platz.

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