27. August 1998 | Süddeutsche Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Wer mich liebt, nimmt den Zug

Herzen auf der Zunge

Höchste Eisenbahn: Chéreaus WER MICH LIEBT, NIMMT DEN ZUG

Limoges ist eine Art Grenzstadt zum Reich der Toten: Der Friedhof dort ist mit 185 000 Gräbern reicher bevölkert als der Ort mit seinen 140 000 Einwohnern. Für Chéreau scheint das vor allem eine Herausforderung zu sein, mit jeder Szene zu beweisen, wie lebendig seine Figuren sind. 15 der allerbesten französischen Schauspieler besteigen in Paris den Zug, um in Limoges der Beerdigung des homosexuellen Malers Jean-Baptiste beizuwohnen. Und wenn Zusammenkünfte dieser Art schon im wirklichen Leben die Pest sind, so wird hier aus dem Ausflug die reinste Höllensturz. Von Beginn an stürzt sich die Cinemascope-Kamera von Eric Gautier ins Getümmel, als sei sie selbst vom Reisefieber gepackt. Nach kürzester Zeit hat man den Eindruck, daß einzig die Zugtoilette so etwas wie Ruhe garantiert.

Patrice Chéreau ist ein Mann des Theaters und wird – so sehr er sich auch um filmische Größe bemühen mag – immer einer bleiben. Er kehrt stets das Innerste nach Außen, so wie er es von der Bühne gewohnt ist, und will einfach nicht begreifen, daß die Wege des Kinos genau in die entgegengesetzte Richtung führen. Je sorgfältiger man sich der Außenhaut der Welt nähert, desto eher wird man durch sie hindurchdringen können. Und wenn schon alle ihre Herz auf der Zunge tragen müssen, dann muß die Kamera nicht auch noch versuchen, ihnen dabei in den Rachen zu blicken.

Natürlich ist es ein Vergnügen Jean-Louis Trintignant in einer Doppelrolle zu hören und zu sehen: als Toter ist er in einem letzten Interview zu hören, und als überlebender Bruder frönt er dem Schuh-Fetischismus. Allein er scheint sich dem Drang des Regisseurs zur totalen Veräußerung der Gefühle entziehen zu können. All den anderen ist man allerdings dennoch zugeneigt, weil man sie auch schon besonnener gesehen hat: Vincent Perez, Valéria Bruni-Tedeschi, Charles Berling, Roschdy Zem, Dominique Blanc, Pascal Greggory. Aber in dieser Besetzung wirken sie fast wie Karikaturen von Bürgerschrecks: Drogensüchtige, Transsexuelle, Schwangere, Aids-Kranke, Dealer, Hysteriker. Wenn das der indiskrete Charme der Bohème sein soll, dann haben sie mit ihrer Zwanghaftigkeit die Bourgeoisie längst überholt. Denn all die großen Ausbrüche sind dann nur noch ein Mittel, um die kleinlichen Gefühle zu kaschieren. Eine Fratze allein macht aus einem Kleinbürger noch keinen Künstler.

Chéreau ist in jeder Hinsicht ein anderer Regisseur als Chabrol. Aber was Fassbinder über letzteren gesagt hat, gilt auch für ersteren: Er ist wie ein kleiner boshafter Junge, der allerlei Tierchen in sein Terrarium steckt, um dann zuzusehen, wie sie übereinander herfallen und sich zerfleischen. Wenn hinter den großen Verletzungen tatsächlich zärtliche Gefühle verborgen liegen, dann muß es sich um die Zärtlichkeit der Wölfe handeln.

Der Titel geht zurück auf den Dokumentarfilmer François Reichenbach, der sich auch fernab von Paris in Limoges beerdigen ließ und verwunderten Fragen mit der Antwort zuvorkam: „Wer mich liebt, nimmt den Zug”. Wer im Kino sitzt, muß man leider sagen, sehnt sich irgendwann nach der Notbremse.

CEUX QUI M’AIMENT PRENDRONT LE TRAIN, F 1998 – Regie: Patrice Chéreau. Buch: Chéreau, Danièle Thompson, Pierre Trividic. Kamera: Eric Gautier. Musik: Jim Morrison, James Brown, Björk, Gustav Mahler. Darsteller: Jean-Louis Trintignant, Pascal Greggory, Valéria Bruni-Tedeschi, Charles Berling, Sylvain Jacques, Vincent Perez, Roschdy Zem. Verleih: MFA, 120 Minuten.

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