26. November 1987 | Süddeutsche Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Vier Abenteuer von Reinette und Mirabelle

Stadt, Land, Fluß

Der neue Film von Eric Rohmer: 4 ABENTEUER VON REINETTE UND MIRABELLE

Ein Film von Rohmer sei etwa so, wie wenn man Farbe an der Wand beim Trocknen zusieht Das sagte vor Jahren Gene Hackman in einem Film von Arthur Penn. Und es ist so ein Satz, den man einfach mal loswerden muß. Man braucht ihn deswegen ja nicht gleich für bare Münze zu nehmen. Denn das ist, wenn es um Rohmer geht, ohnehin nicht angebracht. In seinen Filmen wurde und wird viel geredet, manchmal philosophiert und oft geschwätzt. Würde man sie tatsächlich beim Wort nehmen, so wäre das Ergebnis nur die Summe ihrer Reden. Und jeder Film wäre nur so klug wie die in ihm handelnden Personen. Das ist ein weit verbreitetes Mißverständnis, daß man den Leuten nur tiefschürfende Sätze in den Mund legen müsse, um gescheites Kino zu machen. Und daß umgekehrt das Gleiche gilt. Wir haben uns eben so daran gewöhnt vom Kino zur Identifikation eingeladen zu werden, daß uns Rohmers selbstgefällige Schwätzer und altkluge Mädchen eher vor den Kopf stoßen. Dabei gibt es in seinen Filmen wirklich Unerhörtes zu sehen.

Natürlich ist Eric Rohmer ein sehr gebildeter Mann, ein Professor der Literatur sogar. Aber so gescheit seine Helden manchmal auch daherreden mögen, so wenig braucht man sich darum zu scheren. Schwätzer bleibt Schwätzer. Die Filme sind keinen Deut schwerer zu verstehen als jeder x-beliebige Hollywood-Film – man sollte nur etwas mehr Geduld mitbringen. Sie benötigen keine Interpretationen, und es gibt darin keine Zeichen zu lesen. Eine Wand ist auch bei Rohmer eine Wand — natürlich! Und wem beim längeren Betrachten einer Wand – oder der darauf trocknenden Farbe – wirklich nur übereinandergemauerte Ziegelsteine durch den Kopf gehen, der ist allerdings selber schuld. Womit bereits angedeutet wäre, daß der Film seine Spannung aus dem Alleralltäglichsten bezieht; aus einem Realismus, der beinahe schon dokumentarisch wirkt und eben doch das Ergebnis strenger Inszenierung und reiner Erfindung ist.

Während anderswo alles daran gesetzt wird, den Zuschauer sich selbst vergessen zu lassen, wird er hier dazu verleitet, sich seiner Rolle bewußt zu werden. Wenn zwei reden, dann fühlt man sich, als säße man am Nebentisch und würde unbemerkt ein Gespräch belauschen. Und auch dabei macht man sich nur etwas vor. Aber was ist das Kino denn anderes? Langer Rede, kurzer Sinn: Es geht ums Schweigen. Damit beginnt der Film und so hört er auf. Reinette, das Mädchen vom Lande, will Mirabelle, der Pariserin, etwas zeigen: die blaue Stunde, den Moment, an dem die Stimmen der Nacht verstummen und die des Tages noch nicht erwacht sind, den Augenblick vor Morgengrauen, wo die Welt schweigt.

Beim ersten Versuch stört ein Motor die Stille, und Reinette ist untröstlich. Mirabelle muß der Weinenden versprechen, noch einen Tag zu bleiben. Sie besuchen den Nachbarhof, reden mit dem Bauern, laufen durch den Regen, sehen Kühe und das Getreide im Wind, essen und tanzen. Am nächsten Morgen erwacht nur Mirabelle und schleicht sich mit der Taschenlampe nach draußen. Die Nacht hegt blau über der Landschaft, man hört ein Käuzchen. Dann verstummt es plötzlich, die Welt halt den Atem an. Man reißt die Augen auf, um etwas zu hören, sperrt die Ohren auf, um etwas zu sehen. Blau und Stille. Es ist ein bißchen, so sagt Reinette, wie das Weltgericht. Dann kommt das Urteil: Noch ein Tag. Und die Vögel fangen an zu singen. Reinette ist hinzugekommen. Stumm umarmen sich die beiden Mädchen. Ende des ersten Abenteuers. Zum Heulen schön. Wer den letzten Rohmer gesehen hat, merkt es gleich: Die blaue Stunde ist eine Verwandte des grünen Leuchten. Dieser Titel bezeichnete einen seltenen Moment vor Sonnenuntergang, an dem das Licht einen grünen Strahl am Meereshorizont erzeugt. Nach der Legende kann man in seinem Angesicht die eigenen Gefühle und die der anderen lesen. Wie in der blauen Stunde verbinden sich da Naturwissenschaft und Märchen, Illusion und Wirklichkeit.

Der Regisseur verwandelt die Realität ins Zauberhafte. Rohmer hat dabei beide Male versucht, den flüchtigen Augenblick tatsächlich mit seiner Kamera zu erhaschen – ohne Erfolg. Er mußte doch auf Special effeckts zurückgreifen. Aber essind doch sehr sanfte Effekte geworden. Das ist die Magie seines Kinos.

Obwohl weitgehend mit demselben Team wie der vorherige Film gedreht, gehört 4 ABENTEUER VON REINETTE UND MIRABELLE schon nicht mehr zu der Reihe der sechs Filme aus dem Zyklus „Komödien und Sprichwörter“. Der Reihenname legte eine bestimmte Betrachtungsweise nahe; der neue Film sieht in einer anderen Perspektive auf die Welt So beiläufig die Erlebnisse der beidenMädchen im Tonfall auch daherkommen mögen, so entschieden verdichten sie doch zu mehr oder minder abgeschlossenen Geschichten, oder besser, Anekdoten. Schon das Wort Abenteuer im Titel legt diese Lesart nahe. Nach der blauen Stunde prellen die beiden im zweiten „Abenteuer“ einen unverschämten Kellner um die Zeche eines Kaffees. Im dritten kommt Mirabelle einer Ladendiebin zu Hilfe und im letzten muß Reinette eines ihrer Gemälde an einen geschwätzigen Galeristen verkaufen, ohne dabei ein Wort reden zu dürfen. Es tut sich nicht viel, und Mirabelle träumt unterdessen von einer Abwechslung in ihrem Leben, von Abenteuern wie in Büchern. Rohmer tut ihr den Gefallen: Auf 95 Minuten versammelt ist ihr Leben ein Abenteuer, wie es im Buche steht.

Am Anfang hat Mirabelle einen Platten. Weil sie noch nicht einmal weiß, wie man das Loch findet, hilft ihr Reinette beim Flicken. Sie hält den Schlauch unter Wasser und dort, wo das Loch ist, steigen Luftblasen auf. Man kennt das, aber hier ist das auf einmal ein wunderschönes Bild, weil es ein bißchen vormacht, wie Rohmers Kino funktioniert. Etwas passiert und plötzlich entsteht im Alltag ein Loch, aus dem der Druck entweicht. Und im Film wird daraus auf einmal erzählbares Leben, Geschichten, die wie Luftblasen an die Oberfläche der Bilder steigen. Etwas wird sichtbar. Ein physikalisches Phänomen, ein Zaubertrick. Wunder geschehen tagtäglich, im Supermarkt oder Straßencafe, auf Bahnhöfen oder Boulevards. Das Staunen über diese Selbstverständlichkeit bringt sie zum Reden. So werden aus den Erfahrungen Erfindungen. So ist es immer wieder: Die eine erlebt was und später erzählt sie es der anderen. Man kann als Zuschauer dabei überprüfen, wie aus dem Erlebten die reine Fiktion wird. Durch die kleine Differenz wird etwas völlig anderes daraus. Das ist pures Kino. Rohmer trennt Bilder und Töne, um zu zeigen, wie das eine das andere erzeugt. Er verwendet seine Kamera wie ein Mikrophon, nicht nur zur blauen Stunde. Die Bilder sind rein funktional: man soll das Gehörte sehen können und umgekehrt Was die Leute so daherreden, ist nie wirklich wichtig. Aber man sollte ihnen dabei auf die Fingerschauen.

Reinette ist ein Mädchen mit Prinzipien, die sie wortreich verteidigt. Nicht immer bestätigt der weitere Verlauf der Abenteuer ihre Reden. Rohmer macht das nicht so sehr, um ihr das Gegenteil zu beweisen, sondern um Möglichkeiten auszuprobieren und aufzuzeigen. Seine moralischen Geschichten waren noch nie eine Frage des „entweder…oder“, sondern mehr eine Sache des „erst…und dann“. Wenn man wie seine Helden immer erst soviel erklären muß, dann kann es mit den Prinzipien ohnehin nicht weit her sein.

Auch Reinette braucht zur Schilderung der blauen Stunde viele und große Worte; die schönste Lektion in Demut nennt sie diesen Moment eines imaginären Weltgerichts. Godard und Giraudoux haben das auch schon beschrieben: „Wie nennt man das, wenn die Unschuldigen in einer Ecke und die Schuldigen in der anderen sind, wenn alles verpfuscht ist aber der Tag anbricht und die Luft trotzdem atmet? – Das nennt man die Morgenröte, Mademoiselle.“ So einfach ist das und so schön.

(In München im Theatiner.)

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