02. September 1996 | Focus Magazin | Filmkritiken, Rezension | Twister

Sturm und Drang

Katastrophen-Kino, Liebesgeschichte und fast schon religiöse Erfahrung: Jan De Bonts TWISTER

Wenn einem zwei Stunden lang Kühe und Traktoren, Tanklaster und ganze Häuser um die Ohren geflogen sind, dann müßte man eigentlich die Nase voll haben. Wenn man hingegen nach TWISTER aus dem Kino kommt, möchte man es persönlich mit einem Wirbelsturm aufnehmen. Und was kann man von einem Actionfilm Besseres sagen, als daß er seine Zuschauer wieder zu Kindern macht?

Mit SPEED schien Jan De Bont das Tempolimit für Hochgeschwindigkeitsfilme ausgereizt zu haben, mit TWISTER legt er noch einen Zahn zu. Dabei bläst einem nicht einmal dauernd der Wind ins Gesicht. Aber wenn er es tut, dann mit einer solchen Wucht, daß einem Hören und Sehen vergeht. Von all dem Spaß, den der Kinosommer zu bieten hat, ist dies also zweifellos der größte.

Jan De Bont habe begriffen, schrieb der „New Yorker“, daß Wahrscheinlichkeit etwas ist, was man vor Beginn des Films unterm Sitz verstaut. Der Film läßt uns vergessen, was wir über die Gesetze der Schwerkraft zu wissen glauben, und macht uns für die Dauer von zwei Stunden zu Meteorologen, denen bei der Bezeichnung F5 ein Schauer den Rücken herunter läuft. Man muß gar nicht wissen, daß F5 Wirbelstürme bezeichnet, bei denen die Welt kopfsteht, um zu ahnen, daß gleich die Post abgeht. F5 klingt einfach gut. Von solchem pseudowissenschaftlichen Firlefanz leben solche Filme eben.

Es geht um Wissenschaftler, die ihr Leben der Erforschung von Wirbelstürmen gewidmet haben. Und was in Wirklichkeit vermutlich der langweiligste Job der Welt ist, wird hier zum reinsten Abenteuer. Mit ihren Trucks fahren sie neben den Windhosen her, als wären es Rinder, die sie mit dem Lasso fangen müssen. In Wirklichkeit wollen sie einen Apparat ins Auge des Tornados bringen, der mit Sensoren ausgestattete Kristallkugeln ausspuckt, mit denen man mehr über die Natur dieser Stürme erfahren kann. Dazu muß man allerdings nah genug an die Wirbelstürme herankommen. Daß der Apparat mit den Kugeln Dorothy heißt wie Judy Garland in DAS ZAUBERHAFTE LAND, gehört übrigens zu den subtileren Anspielungen des Films.

Und daß es ein konkurrierendes Team von Forschern gibt und die beiden Helden in Scheidung leben, gehört zu den Dingen, die den Zuschauer bei Laune halten, wenn mal Flaute herrscht.

Vom Winde verweht: Wer nie begriffen hat, was das bedeutet, weiß es spätestens, wenn der Film es wörtlich nimmt. Wenn vor der Windschutzscheibe eine ganze Kuh vorbeifliegt, dann erfüllt das Kino seinen Zweck: Es zeigt Dinge, von denen wir bislang bestenfalls träumen konnten. Da verläßt der Film den Boden der Tatsachen und tritt ein ins Reich des Surrealismus. Aber das ist in diesem Fall keine Kunst, sondern pure Spielerei.

Die Windhose ist für TWISTER das, was für den WEISSEN HAI die Rückenflosse war. Der Thriller lebt also nicht von Überraschungen, sondern von der ständigen Erwartung, das Schlimmste werde gleich passieren. Und davon, daß unsere Vorstellung davon übertroffen wird. Wenn dann endlich die Kristallkugeln freigesetzt werden und durch den Sturm wirbeln, ist das tatsächlich ein so magischer Moment wie jener Augenblick, als Judy Garland „Over the Rainbow“ singt.

Katastrophen sind im Kino auf einmal wieder populär. Zuletzt gab es das Anfang der Siebziger, daß die Erde überall bebte, Hochhäuser sich in flammende Infernos auflösten und riesige Tiere die Menschheit bedrohten. Vielleicht liegt es daran, daß Katastrophen ein Phänomen sind, das sich der Vernunft hartnäckig entzieht. Einen Wirbelsturm leibhaftig zu Gesicht zu bekommen, das ist fast schon eine religiöse Erfahrung.

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