09. November 1990 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Der Trost von Fremden

Marionetten

DER TROST VON FREMDEN von Paul Schrader

Als Paul Schrader 1979 nach seinen guilty pleasures gefragt wurde, da nannte er unter anderem LETZTES JAHR IN MARIENBAD von Alain Resnais. Das sollte man im Kopf behalten, wenn man sich seinen neuen Film ansieht. Auch dort schreitet die Kamera unablässig voran: „Wieder einmal diese Flure entlang, durch diese Säle, durch diese Galerien, in diesem Bauwerk einer anderen Zeit, schaudernd da schreitend, wo endlosen Fluren Flure folgen, lautlose, leere, überladen vom düsteren, kalten Zierat So wandert bei Schrader der Blick durch die Räume, und je nachdrücklicher er die Erscheinung der Welt beschwört, desto mehr wirkt es, als sei sie nur erträumt. Auch DER TROST VON FREMDEN ist ein traumhafter Film. Er endet mit einem bösen Erwachen.

Der Romanvorlage von lan McEwan ist ein Zitat von Cesare Pavese vorangestellt, in dem er die Brutalität des Reisens beschreibt: „Man ist dauernd aus dem Lot. Nichts gehört einem, außer den wesentlichen Dingen – Luft, Schlaf, Träume, das Meer, der Himmel – lauter Dinge, die der Ewigkeit zuneigen oder dem, was wir uns darunter vorstellen Dieses Gefühl kennen Schrader! Helden: die Versuchung, sich gehenzulassen und die Qual, sich selbst zu verlieren. Das sind die schuldhaften Vergnügungen des Calvinister Schrader.

Ein junges Paar (Rupert Everett und Natashs Richardson) macht Urlaub in Venedig. Colin und Mary gefallen sich, sie sind ein schönes Paar. Was im Roman durch Identifikation mit den Figuren aufgefüllt wird, bleibt im Film leer. Denn wenn sie sich ansehen, dann blicken sie in einen Spiegel. Ihre Liebe bezieht sich auf kein Gegenüber, sondern nur auf sich selbst. Ihre Lust gleicht der des Narziß, der im Wasser sein Spiegelbild betrachtet. Die geringste Erschütterung genügt, um alles zu zerstören.

Auf der Suche nach einer Bar verirren sich die beiden. Einmal stehen sie vor einem blau ausgeleuchteten Schaufenster, in dem zwei Gliederpuppen in einem Bett liegen „Schaut aus wie ein Space Shuttle“, sagt Colin und geht weiter. Dabei sind sie gerade sich selbst begegnet: zwei wesenlosen Marionetten in kaltem Licht. Es wird ihnen gehen wie dem AMERICAN GIGOLO: weil sie nur sich selbst sehen, erkennen sie nicht mehr, daß man es auf sie abgesehen hat. Sie sind in ihrer Blindheit gefangen, sie lassen sich leicht manipulieren.

Ein Fremder (Christopher Walken) spricht sie an und führt sie in ein Weinlokal. Er erzählt ihnen eine Geschichte: Wie ihn einst seine Schwestern mit Leckereien gefüttert und dann ins Arbeitszimmer seines strengen Vaters gesperrt haben, und wie er sich dort entleeren mußte. Auf dem Nachhauseweg übergibt sich Mary. Dann schlafen die beiden erschöpft auf dem Boden ein, irgendwo in der Stadt. Der Körper gerät außer Kontrolle; so beginnt der Abstieg des Narziß.

Auf das Versagen der Körper folgt der Schmerz und dann wieder die Lust. Widerwillig lassen sich Colin und Mary von dem Fremden nach Hause einladen, in einen düsteren Palazzo, durch dessen Räume die Kamera von Dante Spinotti wie ein Echo irrt. Je mehr sich die beiden darin verlieren, desto größer wird ihre Lust im Bett. Ihr Gastgeber hat ihnen die Kleider genommen, seine Frau (Helen Mirren) hat sich an ihren schlafenden Körpern satt gesehen. An diesem weltfernen Ort kommen sie in Lust und Qual ihrer eigenen Auslöschung näher. Der Alptraum beginnt, nun trennt sie nur noch ein kleiner Schnitt vom Tod. Venedig gleicht in diesem Film den Vorstellungen, die man sich davon macht. Das Licht ist angereichert, bis es in süßlichen Farben zerfließt, die Räume kennen keine Fluchtlinien mehr. Es gibt keine natürlichen Bewegungen, nur noch den Gesang der Kamera, die alles umschmeichelt. Und nichts berührt. Das ist die Konsequenz dieses Films und manchmal seine Schwäche. Wo sich alles bewegt, bewegt sich nichts wirklich.

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