07. Dezember 2001 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Die Sammler und die Sammlerin

Das Herz ist eine Kartoffel

Agnès Varda bringt die Kinoverhältnisse zum Tanzen: "Die Sammler und die Sammlerin"

Am Anfang ist das Wort, dann kommen die Bilder. Erst schlägt Agnès Varda im großen Larousse unter G wie „Glanage“ nach und erfährt, daß damit das Auflesen von Ernteresten bezeichnet wird, und im nächsten Moment steht sie schon im Musée d’Orsay vor Millets berühmtem Gemälde von den Ährenleserinnen und fragt sich, was aus den „Glaneuses“ geworden ist. Es ist fast so, als trete die Regisseurin durch das Bild hindurch, um zu sehen, welche Geschichten sich dahinter verbergen. Wie jemand, der einen Stein hochhebt und an seiner Unterseite lauter Schnecken findet.

Bei Agnès Varda war das Dokumentarische schon immer vom Spielerischen durchdrungen – so wie sich ihre Spielfilme im Gegenzug von der Realität nährten. Schon ihr erster Langfilm CLÉO VON 5 BIS 7 erzählte genau zwei Stunden aus dem Leben einer Frau, auch wenn die reale Zeit natürlich die reinste Erfindung war. Und wenn Varda dokumentarisch arbeitete, dann kam stets die Phantasie mit ins Spiel, die ihren Aufnahmen Flügel verleiht. Sie nimmt die Bilder gerne beim Wort und erfreut sich andererseits an der Bildhaftigkeit der Sprache. „Cinécriture“ nennt sie diesen Stil, mit dem sie die Bilder zum Sprechen bringt. Und nur wenige Regisseure haben mit der Freiheit, die sich dahinter verbirgt, so viel anzufangen gewußt wie sie.

Wer wissen will, wozu das Kino imstande ist, wenn es seiner Fesseln entledigt wird, sollte DIE SAMMLER UND DIE SAMMLERIN nicht verpassen. Ganz unbefangen zieht Agnès Varda mit ihrer kleinen Digitalkamera los und sammelt auf, was es zum Thema zu finden gibt. Jean-Luc Godard hat mal gesagt, er habe seinen Film WEEK-END auf dem Schrottplatz gefunden – Varda nimmt ihn beim Wort und stöbert auf der Unterseite unserer Wegwerfgesellschaft herum, auf abgeernteten Feldern, Weinbergen und Obstplantagen, in den Mülltonnen der Supermärkte und den Resten der Wochenmärkte, im Sperrmüll und im Trödelladen. Und sie begegnet dabei Leuten, die sich dort eingerichtet haben, aus Not oder Überzeugung, aus Geiz oder Verzweiflung, eine Armee im Schatten einer Gesellschaft, die ihr Leben innerhalb der Grenzen des Verfallsdatums führt, das den Lebensmitteln aufgestempelt ist.

Varda begegnet Menschen, die sich unsichtbar gemacht haben, die sich mit der Geste des Aufklaubens quasi wegbücken unter den Blick der Gesellschaft, die sie ohnehin nicht wahrnehmen mag – aber auch anderen, die sich ganz bewußt in dieser Grauzone der Resteverwertung bewegen, weil sie sich als Lebenskünstler begreifen oder einfach einen anderen Zugang zur Wirklichkeit suchen. Und weil Varda diese Menschen sichtbar macht, setzt sie sich im Gegenzug auch selbst ins Bild, Auge um Auge sozusagen. Schließlich heißt der Film ja nicht umsonst DIE SAMMLER UND DIE SAMMLERIN .

Da filmt sie dann durchaus uneitel ihren grauen Haaransatz oder ihre faltigen Hände, die ihr „sagen, daß es bald zu Ende ist“. Die eine Hand hält die Kamera, die andere ist im Bild – so fallen in einer Einstellung filmendes Subjekt und gefilmtes Objekt zusammen. Eine Hand wäscht die andere, und die Regisseurin teilt mit ihren Gesprächspartnern das Gefühl der Entfremdung: „Ich bin ein Tier, das ich nicht kenne.“ Varda springt auf diese Weise hin und her, kommt vom Hundertsten ins Tausendste – oder eigentlich eher umgekehrt: Sie kommt ihrem Thema immer näher, indem sie es immer weiter faßt.
Es ist dabei aber nicht das freie Assoziieren, was sie treibt, sondern eine natürliche Neugier und Zugewandtheit zum Leben, die man auch Zärtlichkeit nennen kann. Sie folgt den Leuten, die auf den Feldern die Kartoffeln aufklauben, die für die Erntemaschinen zu groß waren, in ihre Wohnwagen und hört Geschichten von Alkoholismus und Absturz; sie entdeckt einen Weinbauern, dessen Großvater der Urahn des Kinos war und der diesem Urahn des Kinos ein kleines Museum eingerichtet hat; sie folgt einem Mann, der sich von den Abfällen der Gemüsestände am Montparnasse nährt, in ein Ausländerwohnheim, wo er Analphabeten das Lesen beibringt; und sie stößt auf eine Familie, die bei der Weinlese mit ihren Werkzeugen Musik macht, und ist davon so begeistert, daß sie vergißt, die Kamera auszuschalten – was dem Zuschauer das Schauspiel eines zur Musik tanzenden Kameraverschlußdeckels beschert. So bringt die Regisseurin auf ihre Art die Verhältnisse zum Tanzen.

Es kann auch passieren, daß die Sammlerin sich bei ihrer Spurensuche plötzlich fragt, ob die Aufklauberei von Resten eigentlich legal ist – dann stellt sie einfach einen Maître im schwarzen Talar in ein Kohlfeld und läßt ihn aus dem Code pénal zitieren. Oder sie fragt die Leute, die in den Austernbänken vor Noirmoutier herumstochern und alle ganz eigene Begründungen dafür zusammenfabulieren, daß sie sich bei ihrem Treiben auf dem Boden des Gesetzes bewegen. Tatsache ist jedenfalls, daß das, was eigentlich nur geduldet wird, durchaus legal ist. Nur ist das betreffende Gesetz so alt, daß es kaum mehr jemand kennt.

Ebenfalls von Godard stammt der Satz, es gehe nicht darum, politische Filme zu machen, sondern darum, Filme politisch zu machen. Was er damit gemeint hat, wird bei Agnès Varda plötzlich klar. Sie vermeidet den üblichen Kommentar der Sozialreportage, statt dessen macht sie etwas sichtbar, was gerne ausgeblendet wird. Und sie reflektiert ihr Thema, indem sie das Filmemachen selbst zum Gegenstand macht. Sie filme einfach gerne „Überreste, Müll, Verfaulendes, Schimmel“, erklärt die Regisseurin. Ihr Kino fängt dort an, wo andere den Blick abwenden, so wie in ihrem preisgekrönten Spielfilm VOGELFREI (1985), in dem jeglicher wärmender Sozialromantik die Decke weggezogen wird.

Und weil sie eine Sammlerin ist, präsentiert sie auch stolz ihre Fundstücke. Da blickt sie auf der Autobahn auf die vorbeiziehenden Lastzüge, öffnet die Hand vor dem Objektiv und schließt sie dann, als ob sie die Laster einen nach dem anderen wegfangen würde, immer wieder, mit fast kindischer Freude. Das ist ein ganz einfacher Kinotrick: Etwas ist sichtbar, etwas verschwindet. Man kommt aus dem Staunen darüber nicht mehr heraus, was sich auf der Unterseite von Bildern alles finden läßt – man muß sich nur bücken.

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