06. Mai 1998 | Süddeutsche Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Live Flesh – Mit Haut und Haar

Zwei Tränen in einem Lied

Pedro Almodóvar oder die filmische Liebe zur Geometrie: LIVE FLESH - MIT HAUT UND HAAR

Es beginnt mit Blut, Schweiß und Tränen. Gleich zu Anfang platzt in einem leeren Madrider Bus einer Prostituierten die Fruchtblase; dann beißt ihre Kollegin die Nabelschnur durch; und der Busfahrer, der eigentlich schon auf dem Weg ins Depot war, steht hilflos daneben. Das ist Almodóvar, wie er leibt und lebt: In Abwandlung der goldenen Regel des alten Hollywood, ein Film müsse mit einer Explosion beginnen und sich dann langsam steigern, fängt er gerne mit Nervenzusammenbrüchen an, um dann erst loszulegen.

Aber etwas ist anders diesmal. Im entscheidenden Moment rückt die Kamera ab, zeigt den Bus in der Ferne unterm weihnachtlichen Lichterschmuck, um dann langsam heranzuschweben, während die Wehen zu einem erfolgreichen Ende kommen. Es ist ein Junge, und die ältere Prostituierte heißt ihn mit blutverschmiertem Mund in Madrid willkommen. Im nächsten Moment setzt Musik ein, und vor dem Busfenster zieht die nächtlich erleuchtete menschenleere Stadt vorüber. Dies ist die Vorgeschichte: Madrid im Jahre 1970, über Francos Spanien ist der Ausnahmezustand verhängt.

Almodóvar ist ganz der Alte, und doch hat sich sein Blick auf die Dinge verändert. Natürlich liebt er immer noch die Travestie, wie man an dem Arrangement der Geburt unter dem Weihnachtsstern sehen kann; und natürlich hat sich seine Vorliebe fürs emotionale Chaos schon immer an seiner Liebe zur Geometrie ausgerichtet. Aber diesmal wirkt es so, als müsse Almodóvar nicht mehr in jeder Szene beweisen, wie frei, aufgeklärt und modern das neue Spanien ist.

Diesmal genügt ihm dafür im Grunde eine einzige Einstellung: Wenn sich am Ende die Geburt wiederholt, wieder im weihnachtlichen Glanz, dann ist ein Viertel Jahrhundert seit Franco vergangen und der Kreis hat sich geschlossen. Jetzt aber sind die nächtlichen Straßen von Menschen bevölkert. Vor langem, heißt es dazu, hätten die Menschen in Spanien aufgehört, Angst zu haben. So einfach ist das – und so schlüssig. „Ich hatte einen solchen Horror vor dem Francismus”, hat der Regisseur selbst gesagt, „daß ich es mir zur Regel gemacht habe, in keinem meiner Filme von ihm zu sprechen. Ich wollte immer so tun, als wären wir von jeher modern gewesen und frivol. Das war meine Rache. ”

Die Rache ist gelungen, weil Almodóvar wie kein anderer für ein neues Spanien jenseits von Franco steht, und so kann er nun befreit jene Zeit ansprechen und seine Geschichte in eine historische Klammer setzen. Und er schlägt dabei gleich noch einen zweiten Bogen in die Vergangenheit zu Luis Buñuel, dessen „Verbrecherisches Leben des Archibaldo de la Cruz” im Fernseher läuft. Und als sich beim Gerangel der beiden Helden ein Schuß aus einer Waffe löst, setzt sich die Flugbahn der Kugel in dem Buñuel-Ausschnitt fort, wo dann tatsächlich jemand getroffen zu Boden sinkt. Diese geschickt zusammengeschnittene Parallelität der Ereignisse ist mehr als nur ein Witz unter Kennern. Wenn die beiden Spanier etwas eint, dann ist es das Vergnügen, hinter den absurdesten Konstellationen mit der allergrößten Selbstverständlichkeit Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Daß in beiden Filmen der versehentlich gelöste Schuß ein ganzes Leben und seine Obsessionen prägt, ist also kein Zufall.

Das Melodram ist in LIVE FLESH die Verkettung unglücklicher Umstände zu einem glücklichen Ende. Fünf Personen werden in diesen Reigen verwickelt, der sich mit unerbittlicher Konsequenz zum Kreis schließt. Der junge Mann (Liberto Rabal), der einst im Bus zur Welt gekommen ist; eine drogensüchtige junge Frau (Francesca Neri), die es mit ihm auf der Toilette eines Clubs getrieben hat, aber nichts von ihm wissen will; ein älterer Polizist (José Sancho), der im Dienst trinkt, weil er ahnt, daß seine Frau ihn betrügt; sein jüngerer Kollege (Javier Bardem), der mehr weiß, als er zugibt; und die Frau des Polizisten (Angela Molina), die sehr viel später den Helden in die Freuden der Liebe einführt. Dazwischen fällt jener unglückselige Schuß, der das Leben dieses Quintetts auf ewig zusammenschweißt und der letztlich nicht ganz so versehentlich fällt, wie es anfangs scheint.

„Wir sind zwei Tränen in einem Lied”, heißt es einmal in einem Chanson, das die Helden begleitet. Das ist nicht nur ein schönes Bild für die Art und Weise, wie in diesem Film alles zusammenhängt, sondern auch eine ganz gute Definition fürs Melodram: Am Anfang wissen die Menschen noch nichts voneinander, werden nur von demselben überbordenden Gefühl angetrieben, um später dann unversehens zusammenzufließen. Und das alles mit jener Logik, in der auch im Lied eine Note auf die nächste folgt.

LIVE FLESH ist also in jeder Hinsicht eine runde Sache. Sex und Tod, Werden und Vergehen, Schreien und Stöhnen, die Schwäche der Männer und die Stärke der Frauen, alles da, aber aus leicht veränderter, sozusagen erhöhter Perspektive. Vielleicht liegt es an der zwangsläufig disziplinierteren Vorlage der englischen Krimi-Autorin Ruth Rendell, von der es allerdings heißt, der Spanier habe sie nur verwendet, um sie sogleich zu verwerfen; vielleicht ist es aber auch nur ein Zeichen von Reife, wenn Almodóvar nicht mehr in jeder Szene die Zügel schießen läßt. Wo Almodóvar früher dem Gesetz der Begierde folgte, da geht es nun mehr um die Logik des Herzens.

LIVE FLESH, E/F 1997 – Regie: Pedro Almodóvar. Buch: Almodóvar nach dem gleichnamigen Roman von Ruth Rendell. Kamera: Affonso Beato. Schnitt: Pepe Salcedo. Produktionsdesign: Antxon Gomez. Musik: Alberto Iglesias. Darsteller: Javier Bardem, Francesca Neri, Liberto Rabal, Angela Molina, José Sancho. Verleih: Prokino / Media Part. 99 Minuten.

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