21. April 1995 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Little Odessa

LITTLE ODESSA von James Gray

Herzen im Winter

Es gibt im Kino keine verloreneren und traurigeren Figuren als jene, die das Töten zu ihrem Beruf gemacht haben. Ihre Opfer sind ihre Familie, und ihr einziger Freund ist der Tod. Weil die saubere Ausführung der Aufträge ihr Überleben garantiert, haben sie gelernt, keine Spuren zu hinterlassen und sich unsichtbar zu machen. Ihre bloße Existenz ist jedoch bereits eine Spur zuviel. Deshalb sind ihre Aufträge erst dann ganz erfüllt, wenn auch sie selbst nicht mehr reden können. Der wahre Sinn ihrer Mission ist ihr eigener Tod.

Vor diesem Hintergrund muß man James Grays LITTLE ODESSA sehen, der sein Spiel treibt mit dem Bild, das das Kino vom professionellen Töten entworfen hat. Im Grunde erzählt der Film zwei Geschichten. Die eine handelt von einem Killer, der noch Eltern und Bruder hat. Die andere handelt von der Familie, deren ältester Sohn ein Killer ist. Grays Regiedebüt, für das er in Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet worden ist, beeindruckt dadurch, daß es ihm gelingt, die beiden Geschichten zusammenzublenden und die Perspektiven sich überlagern zu lassen. Der Film ist so kalt, wie es Filme über Killer sein müssen, und er ist so traurig, wie es Geschichten über verlorene Söhne eben sind.

LITTLE ODESSA heißt das New Yorker Viertel Brighton Beach, wo sich so viele russische Emigranten niedergelassen haben, daß man auf den Straßen mehr kyrillische als lateinische Schriftzeichen sieht. Im Westen liegt der Vergnügungspark Coney Island, im Osten streckt sich Long Island hinaus ins Meer; aber beides bleibt bei Gray unsichtbar. Er konzentriert sich ganz auf Brighton Beach mit seinem berühmten Boardwalk, und so, wie er diese Welt zeigt, liegt Manhattan nicht gleich um die Ecke, sondern Lichtjahre entfernt. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, daß der Film im tiefsten Winter spielt. Die Kälte, von der die Geschichte erzählt, ist buchstäblich sichtbar: Die Menschen haben die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, und wenn sie reden, dann kann man ihren Atem sehen. Das läßt die Beziehungen noch frostiger wirken, als sie es ohnehin schon sind.

Es beginnt mit einem kaltblütig ausgeführten Mord auf offener Straße: hastige Annäherung, Schuß und Flucht. Das Opfer bleibt auf der Parkbank liegen, der Killer Joshua (Tim Roth) meldet Vollzug. Daß er nicht ganz so gefühllos ist, wie er tut, merkt man schon, als er sich sträubt, für seinen nächsten Auftrag nach Brighton Beach zu fahren. Von dort ist er einst vor seiner Familie geflohen, die ihn verstoßen hat. LITTLE ODESSA ist aber auch jene Welt, die sich der amerikanischen Realität nicht stellen will, weil sie von der russischen Vergangenheit nicht loskommt. So wie der Vater (Maximilian Schell), der der Alten Welt nachtrauert, weil er es in der Neuen Welt nur zu einem Kiosk gebracht hat, und der deshalb immer noch lieber Russisch als Englisch spricht. Wenn er seinen mißratenen Sohn sieht, dann glaubt er auch zu wissen, warum.

Der jüngere Bruder Reuben (Edward Furlong) sucht Kontakt zu Joshua, denn die Mutter (Vanessa Redgrave) stirbt langsam an einem Gehirntumor. Der Vater jedoch weist dem Sohn die Tür. Die Familientragödie verdrängt den Genreplot, noch ehe er sich richtig entfalten kann. Die Geschichte vom Killer und seinen Aufträgen eskaliert nicht, sondern kommt beinahe zum Erliegen. Als würde sie von den Gefühlen allmählich zugeschneit.

Wenn dann der Sohn ans Bett seiner Mutter darf, während der kleine Bruder dabeisitzt, gelingt es dem Regisseur, keinen Moment lang vergessen zu lassen, welchem Geschäft der Killer nachgeht, und dennoch den Emotionen Raum zu geben, als sich Mutter und Sohn nach Jahren wieder in die Arme nehmen. Da sitzen dann die drei wunderbaren Schauspieler, Vanessa Redgrave, Tim Roth und Edward Furlong, und scheinen einen Moment lang tatsächlich aus demselben Holz geschnitzt. Und dann sieht man wieder die Möwen über dem verschneiten Strand und weiß, daß es noch lange nicht Zeit für den Frühling ist.

LITTLE ODESSA ist eine große Tragödie, die ohne große Gesten auskommt, ein Genrefilm, der sich den üblichen Zwängen entzieht, eine Geschichte, die mit ihren Widersprüchen zu leben versteht. Am Ende schießt jemand auf eine Silhouette, die sich hinter einem aufgehängten Laken bewegt. Wenn dann die Kamera durch das Loch im Laken taucht, wiederholt sie zum einen jenes Loch, das sich am Anfang bei einer Kinovorführung in den Filmstreifen geschmort hat. Zum anderen führt sie vor, welchen Preis man zahlen muß, wenn man das Leben mit dem Kino verwechselt.

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