08. Juni 1990 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Jugendsünde

Kino: JUGENDSÜNDE von Radovan Tadic

Die Macht des Schicksals

Jedes Bild in diesem Film ist der Anfang eines nie geschriebenen Gedichts.

Und jede Kamerafahrt ist eine der Zeilen, die der traurige Held Antoine nicht zu Papier bringt. Antoine will Dichter werden, aber die Welt entzieht sich ihm, so oft er versucht, sie in Worte zu fassen. Was Antoine schreibend nicht gelingt, das schafft die Kamera spielend. Sie macht sich einen Reim auf die Welt.

Die Geheimnisse von Paris beschwört der Jugoslawe Radovan Tadic, der dort seit 1972 als Filmkritiker und Kurzfilmregisseur lebt. Zwischen Châtelet und den Tuilerien spielt sein erster Spielfilm, im Herzen einer Stadt, deren Topographie von jeher die Einbildungskraft gereizt hat. Die Günstlinge des Mondes sind hier zu Hause und die eiskalten Engel. Von den Mansardenzimmern unter den Dächern steigt der Film hinab in die endlosen Tunnels der Metro, von den nächtlichen Arkaden der Hauptpost wandert er zu den hellen Gängen einer Badeanstalt. Nur wenigen Menschen begegnet er auf seinem Weg, aber jeder wird behandelt wie ein Geheimnisträger. So wird das Alltägliche zum Besonderen in JUGENDSÜNDE.

Blonde Engel und alte Hexen bevölkern den Film, verliebte Dandys und verdorbene Mädchen. Tür an Tür mit Antoine leben zwei Frauen im sechsten Stock unterm Dach. Die eine ist alt und rührend besorgt um ihn, die andere jung und ihm körperlich zugetan. Was der Film darüber hinaus von den beiden erzählt, könnten auch bloß Hirngespinste von Antoine sein. Therese (Muni), die Alte, warnt aus einer Telephonzelle heraus Unbekannte vor drohendem Unglück. Wenn sie dann am nächsten Tag die Zeitung aufschlägt, haben sich ihre Prophezeiungen erfüllt. Franchise (Geraldine Danon), die Junge, hat mehrere Liebhaber, kommt schnell zur Sache und schätzt die sexuelle Ausschweifung. Der Schrecken, den die eine, und die Lust, die die andere verbreitet, stecken die Welt ab, die Antoine dichtend fassen möchte. Aber das, was die beiden Frauen verkörpern, entzieht sich der Ordnung, von der er spricht. Der Film spielt in einem Land jenseits der Dichtung, wo die Gesetze der Poesie nicht mehr gelten. Hier verdichtet sich alles von selbst. Das ist das Reich des Kinos.

Als Antoine einmal mit Paul (Patrick Bauchau) durch die Straßen spaziert, erklärt ihm der beim Anblick einer Passantin, man müsse sich von der Schönheit der Frauen inspirieren, nicht verwirren lassen. Während die beiden weitergehen, folgt die Kamera der Frau in eine Boutique, wo sie eine Weste anprobiert. Als sie sich ausgezogen hat, bemerkt die alte Verkäuferin, was für schöne Brüste die Kundin hat. Woraufhin die ihr erklärt, daß das alle Männer sagten, außer ihrem Ehemann. Im übrigen könne sie sie ruhig anfassen, sie habe das gern. Wenig später ist sie tot. Kurz zuvor hatte Therese ihren Mann noch gewarnt. Von dieser Art sind die Geschichten, die Tadic erzählt JUGENDSÜNDE spielt fortwährend auf dem schmalen Grat zwischen Schicksal und Zufall, zwischen beliebigen Phantasien und zwingenden Schlüssen.

Träume kehren wieder, Wege kreuzen sich, Schicksale berühren sich. Für den Zuschauer entsteht eine Welt, in der alles mit allem zusammenhängt. Die Figuren selbst werden sich der Verbindungen kaum bewußt. Der einzige, der von den fatalen Anrufen der Therese etwas mitbekommt, ist ein Taubstummer, der durch die Scheibe der Telephonzelle von ihren Lippen abliest. Aufgeregt signalisiert er seiner Begleiterin, was er mitbekommen hat, dann verschwindet auch er im Netz der undurchsichtigen Verknüpfungen, die der Film durchstreift.

Von der Macht des Schicksals erzählt JUGENDSÜNDE und davon, daß man sie vor lauter Zufällen nicht mehr wahrnimmt. Die Wunder liegen bei Tadic auf der Straße. Und nur das Kino hat die Mittel, sie auch sichtbar zu machen. Daß ein junger Dichter in der Metro ein Gedicht von T S. Eliot liest, dabei einschläft, träumt, wieder erwacht, aussteigt, die Kamera mit ihm mitgeht bis zur nächsten Wagontür, wo gerade eine junge Engländerin einsteigt, die ein Buch aufschlägt und anfängt, ein Gedicht von T S. Eliot zu lesen: Das kann passieren. Darin liegt der Zauber dieses Films.

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