28. Februar 2010 | Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung | Filmkritiken, Rezension | Jonas

Man muss absolut modern sein

Wie der Arzt Ottomar Domnick vor fünfzig Jahren versuchte, dem deutschen Kino auf die Sprünge zu helfen

Als 1957 die Berlinale zum ersten Mal im frisch eröffneten Zoo-Palast stattfand, der die Formensprache der Moderne in die West-Berliner City brachte, wurde die Bundesrepublik mit einem Wettbewerbsbeitrag vertreten, der auf ähnliche Weise versuchte, absolut modern zu sein. Es stellte sich aber heraus, dass das West-Berliner Publikum für Ottomar Domnicks JONAS noch nicht wirklich bereit war. Der Auswahlausschuss hatte schon im Vorfeld den Festivalleiter Alfred Bauer informiert, dass der Film schwer verständlich sei und dass auch die Mitglieder selbst ihn erst verstanden hätten, nachdem „Frau Ministerialrat Spangenberg Sinn und Inhalt des Film erläutert hatte“.

Der Ausschuss empfahl dem Leiter deshalb, eine Sonderpressekonferenz abzuhalten und die Vorführung durch einen Vortrag einzuleiten, „damit ein nicht vorbereitetes Publikum die psychoanalytische Symbolsprache des Films“ verstehe. Der Regisseur hatte dagegen nichts einzuwenden und versah seinen Film mit einem englischen und französischen Vorspann, um das vielstimmige Sprechergewirr nicht untertiteln zu müssen. JONAS ging trotzdem leer aus, den Goldenen Bären bekamen die ZWÖLF GESCHWORENEN, das Spielfilmdebüt von Sidney Lumet.

Was an JONAS so besonders war, erschließt sich kaum durch die Geschichte, in der ein Druckereiarbeiter sich einen Hut kauft, der ihm gestohlen wird, worauf er in einer Gaststätte kurzerhand einen anderen Hut mitgehen lässt, dessen Monogramm ihn an einen vergessenen Namen und eine verdrängte Schuld aus dem Krieg erinnert. Man kommt der Sache schon näher, wenn man einen Blick auf den Regisseur wirft, einen Autodidakten, der sich in den Kopf gesetzt hatte, dem deutschen Kino auf die Sprünge zu helfen.

Ottomar Domnick (1907-1989) war ein Nervenarzt, der in Nürtingen über dem Aichtal eine psychiatrische Klinik unterhielt und sich früh als Sammler und Förderer für die abstrakte Kunst einsetzte, ein Buch über Hans Hartung veröffentlichte, 1950 einen Zwölfminüter namens NEUE KUNST – NEUES SEHEN drehte, dafür einen deutschen Filmpreis erhielt und drei Jahre später einen Film über den befreundeten Maler Willi Baumeister folgen ließ.

Zu diesem unbedingten Glauben an die Moderne wollte er auch das deutsche Kino bekehren, das in jenen Jahren von SISSI und der TRAPP-FAMILIE, von den HALBSTARKEN und dem HAUPTMANN VON KÖPENICK dominiert wurde. Domnick träumte also von einem Film, der anders war als die anderen, abstrakt wie die geliebte Kunst eben, und er ließ sich auch von den wiederholten Warnungen und Mahnungen seines Bruders, des Produzenten und Dokumentarfilmers Hans (TRAUMSTRASSE DER WELT), nicht von seinem Vorhaben abbringen, „den Zustand des modernen Durchschnittsmenschen zu zeigen. Ausgesetzt den Schlagworten, den Verlockungen, den Einengungen des modernen Lebens.“ Und dieser Versuch, ein Lebensgefühl einzufangen, wirkt aus heutiger Sicht nicht halb so pathologisch, wie es der Befund des Nervenarztes damals wollte.

JONAS zeigt ein Stuttgart des Jahres 1957, das so nah an Michelangelo Antonionis späteren italienischen Stadtbildern ist, wie es dieser Stadt eben möglich war. Denn Domnick und sein Kameramann Andor von Barsy fingen die gähnende Leere dieser Nachkriegsmoderne ein, und auch wenn der Film dabei die Einsamkeit, Entfremdung und Unbehaustheit des Menschen etwas forcierte, lebt „Jonas“ eben doch von einem poetischen, fast zärtlichen Blick auf die Kehrseite des Wirtschaftswunders, der aus heutiger Sicht fast unverstellt wirkt.

Und er lebt natürlich auch von der Ausdruckskraft des Schauspielers Robert Graf, der von Domnick an den Münchner Kammerspielen fürs Kino entdeckt wurde und der der namenlosen Angst, die diesen Mann umtreibt, ein Gesicht verleiht. Unterstrichen wird diese beklemmende Atmosphäre noch durch cocteauhafte Polizeipatrouillen, die durch die Stadt rasen, und orwellhafte Parolen aus dem Off, die den Helden schon heimsuchen, wenn er sich morgens zu den Klängen von Duke Ellingtons „I Like the Sunrise“ vor dem Spiegel rasiert.

Dieses Stimmengewirr aus dem Off, das zwischen Gedankenpolizei, Werbesprüchen und Phrasendrescherei wechselt, stammt übrigens von Hans Magnus Enzensberger, der hier eine Art Klangteppich aus konkreter Poesie webte. Man muss auch das als Experiment sehen, etwas von jener Wucht abzubilden, mit der plötzlich die Moderne in all ihren Ausformungen auf die Menschen einstürmte, die noch in einer anderen Zeit gefangen waren.

Als JONAS im Herbst 1957 ins Kino kam, schrieb Karl Korn in dieser Zeitung von einem „Ereignis“ – aber auch: „Gott bewahre uns vor den Nachahmern!“ Und Gunter Groll meinte in der „Süddeutschen Zeitung“: „,JONAS wird in die Filmgeschichte eingehen – als der mutigste, einsamste und unwiederholbarste deutsche Film unserer Tage.“ Hans Richter, der in den zwanziger Jahren selbst die filmische Avantgarde gewesen war und in jenen Tagen zu Besuch in Deutschland weilte, war sehr erstaunt über „die gespannte Aufmerksamkeit des Publikums“ sowie über den Umstand, „dass ein solcher Film mit einem solchen Thema vier Wochen lang in einer doch ziemlich ,kaufmännisch‘ interessierten Stadt wie Frankfurt laufen konnte“, und empfand den Unterschied zu den 99 Prozent anderer deutscher Filme als „grotesken Gegensatz“. Er fand JONAS noch nicht einmal vollständig gelungen, aber natürlich erkannte der Mann, der einst anlässlich der Stuttgarter Werkbund-Ausstellung 1929 ein flammendes Plädoyer für den „künstlerischen Film“ geschrieben hatte, im Regisseur Ottomar Domnick einen Geistesverwandten.

Tatsächlich aber landete JONAS wie sein Regisseur, dessen weitere Filmexperimente kein Aufsehen mehr erregten, auf dem Abstellgleis der deutschen Filmgeschichte und taucht in Aufzählungen kaum je irgendwo auf, obwohl – und wahrscheinlich gerade weil – er den Gestus des Oberhausener Manifests, wonach Papas Kino tot sei, um fünf Jahre vorwegnahm.

Man kann vielleicht sagen, dass das Land noch nicht bereit war für das Kunstwollen eines Nervenarztes, der das Kino neu erfinden wollte. Hans Magnus Enzensberger schrieb jedenfalls in einem Brief an Domnick über JONAS: „Wahrscheinlich wird man dem Fingerzeig nicht folgen und weiter Groschenfilme machen; dann ist die deutsche Filmindustrie in spätestens sechs Jahren vollkommen geliefert.“ Er wusste gar nicht, wie recht er in beidem behalten sollte. Umso wichtiger ist es heute, sich daran zu erinnern, wie modern die Bundesrepublik sein konnte, wenn sie nur wollte.

Schreibe einen Kommentar

Ihre E-Mailadresse wird nicht öffentlich angezeigt. Pflichtfelder sind mit * markiert. Mit Absenden Ihres Kommentars werden Ihre Einträge in unserer Datenbank gespeichert. Weitere Informationen finden Sie in unserer » Datenschutzerklärung


4 × 5 =