20. Dezember 2003 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Ich habe keine Angst

Der Film ICH HABE KEINE ANGST von Gabriele Salvatores stutzt die Welt auf einsdreißig zurecht

Vor dem geistigen Auge verschwimmt der Film zu einem Meer aus Gelb. Goldgelb, sonnengelb, getreidegelb. Die Kamera kann sich gar nicht sattsehen und streift wie der Sommerwind durch die Weizenfelder Apuliens. Alles ist wogende Weite und flirrende Hitze in dieser Landschaft, die aus der Zeit und der Welt gefallen scheint. Der Film spielt 1978, aber die Gegenwart wird ihn erst am Ende einholen. Gabriele Salvatores, der 1992 den Auslands-Oscar für MEDITERRANEO gewonnen hat, erzählt in IO NON HO PAURA einen Politthriller aus der Kinderperspektive und hat das ganz wörtlich genommen: Die Kamera wurde stets auf 1,30 Meter Höhe aufgestellt, um auf die Erwachsenenwelt aus Untersicht zu blicken. So entwickelt sich sein grausames Märchen von Kinderspielen und Kindsentführung, das auf Niccolò Ammonitis Roman „Die Herren des Hügels“ basiert. der ähnlich konsequent auf Augenhöhe seines minderjährigen Helden Michele bleibt wie Stephen Kind in DAS MÄDCHEN. Die Kinder, die in der Weizenweite so verloren wirken, daß man fast fürchtet, ein Raubvogel könnte sie für Beute halten, trieben in lähmenden Sommerhitze des gottverlassenen Kaffs Aqua Traversa ihre grausamen, unschuldigen Spielchen. Bei einem der Ausflüge zu einem verfallenen Haus auf einem fernen Hügel findet Michele (Giuseppe Cristiano) unter einer Abdeckung ein Verließ, in dem sich etwas regt, was sich erst auf den zweiten Blick als total verwahrloster, völlig verängstigter Junge entpuppt – vor Schreck flieht Michele nach Hause und kehrt erst am folgenden Tag zurück.

Der Film lebt von dem Rhythmus der langen Wege durch die staubige Sommerhitze, vorbei am Nachbarshof mit den wenig possierlichen Schweinen, zu Fuß oder mit dem Rad, zaghaft oder gehetzt. Und erst langsam nimmt das Wesen in dem Erdloch Gestalt an. Was man anfangs noch für einen Wolfsjungen hält, dessen Geschichte im Dunkeln liegt, entpuppt sich allmählich als Junge, der dort gefangen gehalten wird und so verstört ist, daß er nur langsam Sprache und Vertrauen wiederfindet. Erst läßt ihm Michele Wasser ins Loch hinab, später bringt er ihm einen Laib Brot und holt so den Jungen, der sich tot glaubt, nach und nach in die Welt zurück.

Der zögerlich keimenden Beziehung der beiden steht das Elternhaus entgegen, wo Michele instinktiv spürt, daß er das traurige Geheimnis des Hügels besser für sich behält. Der Vater ist Lastwagenfahrer und nur selten zuhause, und wenn er kommt, bringt er unheimliche Freund mit oder hält mit den anderen Vätern Treffen ab, die nichts Gutes verheißen. Salvatores verdichtet geschickt die Hinweise auf die wahre Geschichte hinter der Gefangenschaft des Jungen und verläßt dabei niemals den kindlichen Horizont. Und wenn der jugendliche Held dann endlich dem schrecklichen Geheimnis des Dorfes auf die Spur kommt, ist es fast schon zu spät.

Was das angeht, erinnert ICH HABE KEINE ANGST durchaus an Benignis DAS LEBEN IST SCHÖN, denn auch Gabriele Salvatores betreibt den Schrecken als Kinderspiel und stülpt damit sein Genre von innen nach außen, wodurch die häßlichen Innereien zwangsläufig deutlicher sichtbar werden. Der Befund ist am Ende der gleiche wie in allen Politthrillern aus Italien: Alle stecken unter einer Decke.

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