10. Juni 1994 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Hudsucker

HUDSUCKER – Der große Sprung von Joel und Ethan Coen

Clever & Smart

Die Nacht ist aus schwarzem Lack, der Schnee fällt wie Styropor, und die Wolkenkratzer kennen keinen Himmel. Langsam schwebt die Kamera auf ein New York zu, das offenbar nicht von dieser Welt ist. Es liegt in einem Spielzeugland, wo die Häuser Modelle und die Menschen Marionetten sind. Und das wäre auch ganz wunderbar, wenn in dem Film nicht auch die Gefühle aus Pappe wären.

Man sieht also als allererstes das nächtliche New York, und während man sich gerade noch wundert, wie viele Filme mit dem gleichen Blick beginnen, sagt eine Stimme vergnügt: „Ja! New York.“ Ein geschickter Schachzug, der aus dem Gewohnten etwas Gewitztes macht, aus einem Allgemeinplatz einen besonderen Ort. Joel und Ethan Coen haben all die Filme gesehen, die mit dieser Einstellung anfangen, und kennen sich auch sonst ganz gut in der Filmgeschichte aus. Für die Geschichte ihres eigenen Films heißt das jedoch, daß über jeder Szene jene Stimme zu liegen scheint, die sich amüsiert: „Ja! Capra. Ja! Sturges. Ja! Hawks.“ Und die Brüder Coen versuchen dabei jedesmal, ihre Vorbilder noch zu übertreffen.

Für die ersten drei Minuten von HUDSUCKER wurde ein Modell von New York im Maßstab l:24 errichtet, ein Metropolis der vierzehn schönsten Gebäude, eine Phantasie mit zwölftausend winzigen Fenstern, die drei Monate Arbeit gekostet hat. Wer sich fragt, ob sich dieser Aufwand lohnt, der sollte nur mal diese ersten drei Minuten ansehen, in denen die Kamera fliegt wie im Traum. Durch einen Wald aus Luftschlössern treibt sie auf das große erleuchtete Zifferblatt der Uhr zu, die das Hudsucker Building ziert, um dann einen Mann zu erfassen, der auf dem Fensterbrett vor dem Sprung in die Tiefe steht. Doch ehe es dazu kommen kann, wird erst einmal die Uhr zurückgedreht.

Über Zeit und Raum verfügen Joel und Ethan Coen in ihren Filmen nach Belieben. Wie die Zeit in RAISING ARIZONA (1987) im Fluge vergeht oder in BARTON FINK (1991) zähflüssig zerrinnt und wie das die Räume verengt oder zerdehnt, das ist jeweils eindrucksvoll in Szene gesetzt. Und auch HUDSUCKER wirkt wie eine große Kaugummiblase, die sich dehnt und dehnt, bis sie platzt. THE HUDSUCKER PROXY ist der fünfte Film der Coen-Brüder in zehn Jahren. Joel ist der Regisseur, Ethan der Produzent. Der eine war auf der Filmschule, der andere hat Philosophie studiert. Der eine, sagt ihr Koautor Sam Raimi, denke visuell, der andere eher literarisch. Der eine sei das Herz, der andere der Kopf. Wo aber sitzt die Seele?

Wozu braucht man eine Seele, entgegnen die Coen-Filme, wenn man an die Mechanik des Zufalls glaubt, der Schicksal spielt? Und wenn man an eine Welt glaubt, in der es möglich ist, daß jemand in einem Cafe die Stellenanzeigen liest, nichts findet, die Kaffeetasse auf der Zeitung abstellt und das Cafe verläßt, während die Tasse fortgenommen wird und auf der Seite einen Rand hinterläßt, in dem ein Stellenangebot von Hudsucker Industries zu lesen ist, das genau auf den Mann paßt, der inzwischen frustriert seines Weges geht und nicht ahnt, daß mittlerweile ein Luftzug die Zeitungsseite auf dem Tresen erfaßt hat und sie durch die Tür auf die Straße weht, wo sie vom Wind dem Mann hinterhergetrieben wird und ihm von hinten ans Bein fliegt, von wo er sie hochnimmt, wobei sein Blick auf die Anzeige im Kaffeetassenrand fällt, auf die er sich just in dem Moment meldet, als deren Gründer einen langen Anlauf an den Aufsichtsratsmitgliedern vorbei über den Konferenztisch nimmt und durchs geschlossene Fenster in die Tiefe springt, wovon der Mann auf Stellensuche aber nichts merkt, weil er gerade in dem Gebäude verschwunden ist, dessen Besitzer im selben Moment einen unappetitlichen Fleck auf der Straße hinterlassen hat? „Ja! Coen.“ Das macht den Brüdern so schnell keiner nach.

Die Seele ihrer Filme sitzt in der Kamera, die alles animiert, was ihr in die Quere kommt. Die Objekte entwickeln ein Eigenleben, das sie wie die Zeitungsseite an unsichtbaren Fäden ihrer Bestimmung entgegenziehen läßt. Den Menschen geht es nicht anders: Wie Marionetten schlafwandeln sie durchs Leben, durch Träume, in denen die Dinge oft lebendiger wirken als sie selbst. Die Surrealisten hätten vermutlich ihre Freude an diesen Filmen gehabt, in denen den Gegenständen eine geisterhafte Bedeutung zuwächst, ohne daß sie ihr Rätsel preisgeben würden: Ein verschnürtes Paket in BARTON FINK, in dem sich ein abgeschnittener Kopf befindet oder auch nicht. Ein umherfliegender Hut in MILLERS CROSSING (1990), der einem Toten gehört oder auch nicht. Die Zeichnung eines Kreises in HUDSUCKER, hinter der sich eine geniale Idee verbirgt oder auch nicht. Die Hartnäckigkeit, mit der diese Dinge ihre Präsenz behaupten, brennt die Bilder ins Gedächtnis ein. Das verleiht den Filmen der Coens einen Reiz, der sich sogar ihrer Reibungslosigkeit widersetzt.

Hinter der großen Uhr des Hudsucker Building sitzt der Erzähler, der dafür sorgt, daß alles läuft wie geschmiert. Nach dem Selbstmord des Gründers (Charles Durning) möchte der Aufsichtsrat unter Vorsitz von Sydney Mussberger (Paul Newman) die Aktienpreise in den Keller fallen lassen, um dann günstig die Mehrheit zu erwerben. Dazu berufen sie den größten Trottel der Firma, den gerade eingestellen Norville Barnes (Tim Robbins), zum Firmenchef. Eine Reporterin (Jennifer Jason Leigh) kommt ihnen allerdings auf die Schliche und schlägt sich auf die Seite des Trottels, den sie eigentlich bloßstellen wollte.

Für das, was die Figuren im Innersten bewegt, haben die Coens jedoch nicht halb so gute Ideen wie für das, was ihnen von außen widerfährt. Die Art und Weise, wie alles wie am Schnürchen klappt, zeugt vom enormen Talent der Brüder für Choreographie, für Tempo und Bewegung, aber auch von einem bemerkenswerten Desinteresse für ihre Erzählung. In diesem Sinne ist HUDSUCKER, ebenso wie alle anderen Coen-Filme, atemberaubend, brillant und amüsant; aber er ist im selben Maße auch langweilig, blaß und witzlos. Allzu viel ist darin aus Lack und Styropor, und allzu selten sieht man den Himmel.

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