15. Juli 1985 | Süddeutsche Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Die Göttliche

Die Garbo macht's möglich

Sidney Lumets neuer Film DIE GÖTTLICHE

Sydney Lumet ist schwer auszurechnen. Bei ihm kann man von neuen Filmen kaum auf frühere zurückschließen. Sein Repertoire reicht von der Action bis zur Komödie, vom Polizeifilm bis zur Theaterverfilmung. Der thematischen Vielfalt entsprechen die immer neuen stilistische Ansätze. DOG DAY AFTERNOON, THE VERDICT, PRINCE OF THE CITY oder NETWORK weisen nur wenige Gemeinsamkeiten auf, sprechen indes von der ungeheueren Professionalität, mit der sich Lumet jedem Genre nähert. Und davon, daß sein größtes Talent in der Schauspielerführung liegt. Auch in seinem neuen Film DIE GÖTTLICHE ist es Lumet gelungen, die Unpersönlichkeit seines Stils durch die Leistungen der Hauptdarsteller Anne Bancroft und Ron Silver auszugleichen. Und wir lassen uns gern von dieser seltsamen Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Sohn verführen.

Estelle Rolfe ist eine streitbare Person, eine Gerechtigkeitsfanatikerin. Ihre Hochzeitsfeier ließ sie platzen, weil sie die Streikkette vor dem Hotel nicht durchbrechen wollte, und wegen einer Packung tiefgefrorener Zucchini, die ihr ungerechtfertigt teuer erscheint, geht sie ins Gefängnis. Ihren Sohn Gilbert, der nie aus der Reihe tanzt, bringt sie dadurch immer wieder in peinliche Situationen, die sein geordnetes Leben durcheinanderbringen. Bevor er auffällt oder die Stimme erhebt, läßt er lieber alles mit sich geschehen, sei es als Buchhalter bei Plotkin & Perlmutter oder als Ehemann bei seiner kalifornischen Ehefrau, die schon in Ohnmacht fällt, wenn Gilbert in einer lila Jogging-Hose nach Hause kommt.

Sidney Lumet nimmt sich viel Zeit, die Figuren und ihre Lebensumstände zu entwickeln, beim Zuschauer Sympathie für deren liebenswürdige Verschrobenheiten zu wecken. Eine lange, aber ungeheuer komische Exposition, in der Gilberts scheinbar heile Welt sorgfältig geschildert wird, um danach um so nachhaltiger demontiert zu werden.

Die Dinge geraten in Bewegung, als Estelle erfährt, daß sie nicht mehr lang zu leben hat und gegenüber ihrem Sohn einen letzten Wunsch äußert: den Traum ihres Lebens, einmal die Garbo, die Göttliche, leibhaftig zu Gesicht zu bekommen, mit ihr reden zu können. Denn aller Rationalität zum Trotz sieht man Estelle am Anfang des Films Rotz und Wasser heulen, als sie sich im Fernseher DIE KAMELIENDAME anschaut und Greta Garbo als Marguerite in Armands Armen stirbt.

Auf dem Weg, der Mutter den letzten Wunsch zu erfüllen, wird Gilbert endlich ein erwachsener Mann, wird selbständig und tauscht am Ende die Ehefrau gegen eine Frau, die Kalifornierin gegen eine New Yorkerin ein. Über den Traum der Mutter gelangt er zu einem Leben, an das er bis dahin nicht im Traum gedacht hätte. Übers Kino wird er zum besseren Menschen.

Sidney Lumet hat mit DIE GÖTTLICHE einen so amüsanten wie charmanten Film gemacht, dessen sentimentaler Schluß wohl an die alten Garbo-Filme erinnern soll. Wodurch sich dann allerdings der Regisseur als Konfektionär ausweist. Aber schließlich, Konfektion aus Hollywood ist allemal besser als ihr Ruf.

(In den Museumslichtspielen.)

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