28. März 1994 | Süddeutsche Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Der geheime Garten

Der Yorkshire-Terror

Agnieszka Holland verfilmt Frances Hodgson Burnetts Kinderbuch DER GEHEIME GARTEN

1911, als das Jahrhundert auf die Pubertät zusteuerte, schrieb J.M. Barrie „Peter Pan“, die Geschichte eines Jungen, der nicht erwachsen werden will. Im selben Jahr erschien auch Frances Hodgson Burnetts Kinderbuch „The Secret Garden“, in dem ein junges Mädchen in eine Welt kommt, in der die Zeit stillzustehen scheint. Es sah so aus, als habe das Jahrhundert geahnt, was ihm wenige Jahre später blüht, und habe deshalb an Kindheit und Unschuld festhalten wollen.

Freud arbeitete damals an „Totem und Tabu“ und seine Traumdeutung ging gerade in die dritte Auflage. Also kann es kein Zufall sein, daß es in der Welt der nach Amerika ausgewanderten Autorin Burnett von verschlossenen Zimmern, verbotenen Trakten und verwilderten Gärten nur so wimmelt. Immerhin ist dies die Geschichte eines Mädchens, das seine erwachenden Gefühle zu verdrängen versucht. Man muß also nicht Freud sein, um in dem geheimen Garten, in dem die Natur zu ihrem Recht kommt, mehr zu sehen als rein pflanzliche Vergnügungen.

Wer sich wundert, warum die kleine Anna Paquin für ihre Rolle als Adas Tochter im PIANO einen Oscar gewonnen hat, der muß sich nur Kate Maberly in der Hauptrolle ansehen: Da kann man erfahren, wie schwierig es ist, Kinder glaubhaft in Szene zu setzen. Agnieszka Hollands Hauptdarstellerin bietet wenig Anlaß zur Identifikation und wirkt in der Freude so steif wie in ihren Bewegungen ungelenk. Andererseits fügt sie sich in ihrer transusigen Art ganz gut in diese Traumwelt, in der alle Bewohner von der übermächtigen Schwerkraft ihrer Gefühle gelähmt zu sein scheinen.

DER GEHEIME GARTEN ist eine wunderbare Geschichte voller topographischer Windungen und emotionaler Irrgärten, die von der kolonialen Pracht Indiens durch die düstere Welt des Hochmoors von Yorkshire in einen blühenden Frühling führt. Das Herrenhaus des Onkels, zu dem das Mädchen als Vollwaise kommt, ist seit dem Tod der Tante ein Ort der lebenden Toten, die das Licht scheuen und das Glück verfluchen. Der bucklige Onkel meidet jeden Kontakt, der gelähmte Cousin siecht dahin, und die Haushälterin sorgt dafür, daß es auch so bleibt. Das ist der Yorkshire-Terror, von dem so viele englische Bücher zehren.

Natürlich handelt die Geschichte davon, wie das Mädchen Leben in die Bude und die Menschen bringt, aber die Regisseurin (BITTERE ERNTE, HITLERJUNGE SALOMON) betreibt das Gegenteil und zwingt das Frühlingserwachen in starre Tableaus, in denen mal die Drehbuchautorin Caroline Thompson (EDWARD SCISSORGHANDS), mal der Kameramann Roger Deakins (Barton Fink) und mal Coppolas Zoetrope-Studios ihre Handschrift erkennen lassen. Statt der Verwirrung der Gefühle erlebt man nur eine Verwirrung der Stile.

(In München im Arri und Karlstor.)

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