10. Mai 1990 | Süddeutsche Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Eine unwürdige Frau

Das Schweigen der alten Dame

Peter Halls Film EINE UNWÜRDIGE FRAU

Eine doppelte Geschichte, kein einfacher Fall. In den zwanziger Jahren wurde Lillian in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, sechzig Jahre später wird sie von ihrem Großneffen heimgeholt. Wie sie sich einrichtet in dieser späten Freiheit, folgt den Mustern des Anstaltlebens. Die Verbote und Zwänge, die Pläne und Abläufe haben sich, über ihr Denken gelegt. Mit Veränderung und Abweichung kann Lillian nicht mehr umgehen, die Freiheit begreift sie nicht mehr. Über dem, was man sieht in dem Film, liegt das, was Lillian nicht mehr sieht. Von unsichtbaren Mauern erzählt der britische Theatermann Peter Hall in seinem siebten Film, dem ersten seit fünfzehn Jahren.

Das Schweigen der alten Dame, ihr Beharren auf der alten Ordnung, das bringt die Ordnung ihrer neuen Familie durcheinander. Lillian mobilisiert Widerstände, bringt Konflikte zum Ausbruch. Hugh (James Fox), der überkorrekte Großneffe, Harriet (Geraldine James), seine unzufriedene Frau, und Dominic (Jackson Kyle), sein altkluger Sohn, sie alle bringen viel guten Willen, aber wenig Verständnis auf für Lillian (Peggy Ashcroft). Und weil ihr familiärer Zusammenhalt weniger auf Solidarität und mehr auf Funktionieren ausgerichtet ist, gerät durch den Fremdkörper im Haushalt bald Sand ins Getrie¬be. Harriet, die nichts zu tun hat, beginnt sich für das Leben der neuen Mitbewohnerin zu interessieren und entdeckt dabei ihr durchaus verwandte, aber unterdrückte Wesenszüge.

In Rückblenden wird Lillians Jugend gezeigt, voller romantischer Ungeduld und gegen die bürgerlichen Zwänge. Da ist der Film am schwächsten, weil er das Geheimnis des Schweigens bricht, weil er die geduldige Konzentration auf die schönen Gesichter von Peggy Ashcroft und Geraldine James ablenkt auf simple Erklärungsmuster. Und das scheint in einer Geschichte, die ganz und gar von den Schauspielern lebt und von dem, was sie aus den Momenten des Stillstandes machen, wenig konsequent. Die Annäherung der beiden Frauen vollendet sich in der Aktion: Als die schwangere Harriet eine Frühgeburt erleidet, muß Lillian zum erstenmal wieder Verantwortung übernehmen. So gewinnt sie ihre Würde zurück. Der Autor Stephen Poliakoff hatte 1988 einen Film gedreht, HIDDEN CITY, in dem es um eine versteckte Stadt ging, die unter dem sichtbaren London liegt. In SHE’S BEEN AWAY wie Die UNWÜRDIGE FRAU im Original heißt, geht es um ein verstecktes Leben, das sich unter dem sichtbaren Leben verbirgt. Und Peter Hall sucht in seinen Bildern die Einstiegsluken in diese verdrängten, unterdrückten Bereiche der Schicksale, dorthin, wo ein anderes Bewußtsein regiert, wo Wünsche wahr werden. Das macht der Film sichtbar.

(In München im Neuen Atelier.)

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