17. März 1990 | Süddeutsche Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Eine Komödie im Mai

Das Herzflimmern einer Gesellschaft

Louis Malles Sommerliebelei EINE KOMÖDIE IM MAI

In Paris wurden Barrikaden gebaut, Streiks ausgerufen, wurde die freie Liebe propagiert, in der Provinz hoffte man auf De Gaulle. Doch der war plötzlich zwei Tage lang verschwunden, man durfte das Schlimmste befürchten. Ein Schrecken, wie er so nur im zentralistischen Frankreich entstehen konnte. Louis Malle war damals gerade aus Indien heimgekehrt, wo er ein halbes Jahr abgeschnitten war von den Entwicklungen, die zu den Mai-Unruhen führten. Man muß das bei die¬sem Film immer im Kopf behalten.

EINE KOMÖDIE IM MAI ist die Geschichte einer doppelten Entfernung, zusammengesetzt aus historischer Distanz und persönlicher Entfremdung. Man kann sich vorstellen, wie das den Blick prägte: Wie einer zurückkommt aus einem Land, in dem er sich vom ständigen Druck der filmischen Fiktionen befreit hat, und plötzlich steht die Welt köpf. Dieser entfremdete Blickwinkel wird Malle jetzt in Frankreich vorgeworfen: Seine KOMÖDIE IM MAI nehme die damaligen Utopien nicht ernst genug, der Film sei reaktionär.

Louis Malles Rückkehr nach Frankreich, nachdem er zehn Jahre lang in Amerika Filme gemacht hat, ist ein Versuch, sich mit den Gespenstern der Vergangenheit auszusöhnen. In AUF WIEDERSEHEN, KINDER hat er den verräterischen Blick gebannt, der der kindlichen Neugier die Unschuld raubte. In MILOU EN MAI gewinnt er diese Unschuld wieder, indem er mit der Neugier der Kinder und Narren auf die Welt blickt. Es kann in diesem Film passieren, daß einer beim Zubettgehen über den Tod der Mutter in Tränen ausbricht und sich im nächsten Moment eine Schleiereule aufs Fensterbrett setzt: Wie ein Bote aus einer anderen Welt, der von einem anderen Leben inmitten der Realität kündet. Alles ist möglich in diesem Film. Und es ist dabei gar nicht nötig, daß sich das zu wirklichen Geschichten fügt, solange die Fähigkeit zur Fiktion erhalten bleibt. Solange jeder Traum die Toten zum Leben erwecken kann.

Die Bienen schwirren unruhig, Milou (Michel Piccoli) liest ihnen zur Beruhigung Vergil im Original vor, die alte Madame Vieuzac weint beim Zwiebel schneiden, dann bekommt sie einen Herzanfall, schafft es noch die Treppe hinauf zum Sofa mit den alten Kinderpuppen, singt dabei ein Lied und sinkt tot in die Polster. Als Adele, die Hausangestellte, Milou zu Hilfe ruft, läßt sich die Kamera viel Zeit, ihm in einem langen Schwenk zu folgen, wie er auf dem Fahrrad durch die Wiesen herangefahren kommt. In dieser Welt verbreitet der Tod keinen Schrecken, schon ein kleiner Schwenk durchs milde Licht des französischen Südwestens macht ihn beinahe vergessen. Und es kann zwar kurz darauf passieren, daß neben dem Pfarrer ein Dachziegel herunterfällt, aber sonst ist alles, als sei nichts passiert. Nichts wiegt schwer in dieser Welt im Midi-Pyrenees, und schon gar nicht die Nachrichten von den Mai-Unruhen, die das Radio neben der aufgebahrten Toten verbreitet.

Nach und nach versammelt sich die ganze Großfamilie in dem Haus, und fast wäre es wie in den großen Sommerferien, wenn da nicht im Salon die Tote läge. Mit gelassener Geschäftigkeit macht man sich an die Verteilung des Erbes, wobei manche mehr Ernst an den Tag legen als andere.

Es gibt keine Konzentration in dem Film, sondern nur Schnittpunkte, an denen sich die Kreise, die die Personen durch den Film ziehen, überlagern. Die Aufmerksamkeit schweift umher wie an einem großen Mittagstisch, sie schnappt hier einen Fetzen auf, fängt dort einen Blick ein. Und ganz langsam löst sich so die Hierarchie des Erzählens auf. Eine neue Ordnung entsteht, eine utopische Gemeinschaft, die wie ein fernes Echo auf die Entwürfe der Studenten in Paris reagiert. Es gibt einen zögerlichen Enthusiasmus, in dem alle Beteiligten atemlos ihrer eigenen Gelöstheit zusehen – unsicher, wie weit sie sie tragen mag. Dieser Ringelreihen der zaghaften Träume und Sommerliebeleien wird am Ende nichts verändert haben, schon die geringste Zuspitzung der Lage bringt die flüchtigen Verbindungen auseinander, beendet das Herzflimmern, das die Dinge in Bewegung gebracht hatte.

Der Wechsel zwischen den Innenräumen und dem Treiben im Freien schärft ein Raumgefühl, in dem man zusehen kann, wie die starren Strukturen verfliegen. Wie die Möbel der Verstorbenen zu Haufen zusammengetragen werden, so verteilen sich auch die Konstellationen‘ außerhalb des Hauses. Mit dieser Choreographie der Verschiebung und Überblendung bringt Malle in seiner Typenkomödie die Grenzen dieses Genres zum Verschwimmen. Es gibt eine Geschichte, die diesen doppelten Blick zwischen Begrenzung und Freiheit zusammenbringt. Daß nämlich Malle von seinem Kameramann Etienne Becker in Indien gelernt habe, beim Blick durch den Sucher der Kamera auch das andere Auge offenzuhalten. So muß man sich Malles Filme vorstellen: Immer ein Auge für die Möglichkeiten eines anderen Blicks offen.

(In München im City, Leopold, Rex und in der Originalfassung mit Untertiteln im Theatiner.)

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