12. März 2010 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Ein Prophet

Ganz Auge, ganz Ohr

Jacques Audiards großer Gefängnisfilm EIN PROPHET

UN PROPHÈTE hat genauso wie DAS WEISSE BAND bei den Oscars verloren, aber das zeigt nur, wie eng die Grenzen sind, innerhalb deren diese Preise vergeben werden. Denn wenn dort alles mit rechten Dingen zuginge, dann hätte nicht Jeff Bridges seinen zweifellos verdienten Oscar gewonnen, sondern ein junger Unbekannter namens Tahar Rahim, der in EIN PROPHET die zweifellos aufsehenerregendste schauspielerische Leistung des vergangenen Jahres zeigte. Aber natürlich war er noch nicht einmal nominiert. Dafür hat Rahim den Europäischen Filmpreis gewonnen und wurde bei den Césars gleich zweimal ausgezeichnet, für die beste Hauptrolle und die beste Nachwuchsleistung.

Tahar Rahim ist in nahezu jeder Einstellung im Bild – ein junger, vernarbter Mann, der wegen eines ungenannten Verbrechens zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt wurde -, und was seine Darstellung so sensationell macht, ist nicht das, was man so leichthin als Präsenz bezeichnet, sondern eher ihr schwer zu fassendes Gegenteil, ein ständiges Wegducken, ein stets gesenkter Blick, ein kaum entzifferbarer Ausdruck von Verständnislosigkeit, eine instinktive Fähigkeit, immer dorthin zu gehen, wo er am wenigsten im Weg ist, die sich irgendwann wandelt in ein Talent, die hin und her wogenden Kräfteverhältnisse zu seinen Gunsten zu nutzen. Er ist wie ein Boxer, den alle unterschätzen und der lernt, wie er Kraft und Ego seiner Gegner gegen sie wenden kann. Aber das ist ein verdammt langer Weg für dieses Nichts von einem Mann, dem sie als Erstes auf dem Gefängnishof das Einzige klauen, was ihm geblieben ist: seine Turnschuhe. Und Rahims Talent besteht darin, dass wir jeden Meter dieses Weges mit ihm gehen, mit ihm hoffen und bangen, obwohl das bedeutet, sich den brutalen Regeln des Gefängnislebens zu unterwerfen: fressen oder gefressen werden.

Natürlich ist die faszinierende Geschichte des Malik El Djebena nicht allein Tahar Rahims Spiel zu verdanken, sondern auch Jacques Audiards Meisterschaft, die Unentrinnbarkeit dieser Männerwelt zu inszenieren, die manchen an DER PATE erinnerte. Aber Audiard ist kein Mann der großen Gesten, sondern jemand, der wie sein Held ständig auf der Lauer ist, mit nervöser Energie die kleinsten Gesten zu registrieren. Wobei der schonungslose Realismus in der Zeichnung des Gefängnisalltags nicht heißt, dass er sich als Regisseur unsichtbar machen würde. Er gibt ganz im Gegenteil immer wieder Hinweise, dass auch der Realismus nur ein Gestaltungsmittel ist, das jederzeit Raum lässt, das Bild plötzlich einzufrieren, um Namen oder Motti einzublenden oder gar den erstaunlich wohlwollenden Geist eines Toten auftauchen zu lassen, der Malik in seiner Zelle heimsucht. Es ist geradezu so, dass diese Brüche mit der Illusion dem Film erst seine wahre Kraft verleihen.

Welche Wege diese Geschichte nimmt, sollte man vorher nicht ausplaudern, obwohl sie keineswegs von überraschenden Wendungen lebt. Aber ihre Spannung besteht eben auch darin, zu sehen, wie und wohin sich Malik wegducken wird, wie er zwischen korsischer Mafia und Arabern seinen Platz findet, wie er, ganz Auge, ganz Ohr, aufschnappt, was er zum Überleben braucht, wie er lesen und schreiben lernt und wie seine Anpassung an das System eine Karikatur dessen ist, was der Staat draußen von seinen Bürgern erwartet. Einmal wird Malik von César, den Niels Arestrup mit der Majestät eines alternden Löwenkönigs spielt, gefragt, warum er sich immer noch dafür hergebe, für ihn den Kaffee zuzubereiten. Und Malik antwortet nur: „Weil Sie es befehlen.“ Und der alte König begreift nicht, dass es gerade diese Unsichtbarkeit des Befehlsempfängers ist, die Malik erlaubt, Schlupflöcher zu finden.

Jacques Audiard, der als Sohn des großen Drehbuchautors Michel erst in die Fußstapfen seines Vaters trat, ehe er anfing, selbst zu inszenieren, ist mit seinem fünften Film in fünfzehn Jahren – nach REGARDE LES HOMES TOMBER, UN HÉROS TRÈS DISCRET, SUR MES LÈVRES und „DER WILDE SCHLAG MEINES HERZENS – ein noch intensiverer Film gelungen, der an die Tradition großer französischer Gangsterfilme anknüpft, ohne daraus eine Spielerei mit Zitaten zu machen. EIN PROPHET ist einer der stärksten Eindrücke, die das Kino zurzeit zu bieten hat. Auch ohne Oscar.

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