23. Februar 1985 | Süddeutsche Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Clementine Tango

Gefallene Engel

Caroline Robohs CLEMENTINE TANGO

Charles Vorstellung vom Idealbild einer Frau: rein und sinnlich zugleich, wie die Engel auf den Bildern des Hochrenaissance-Malers Melozzo da Forli. Solche Ideale sind im Film immer dazu da, zerstört zu werden. Das erfordert zuerst einmal eine Veränderung des „Idealisten“.

Der Jurastudent Charles (Francois Helvey) lebt mit seiner Schwester Blanche (Caroline Roboh) in der großbürgerlichen Pariser Stadtwohnung seiner Eltern. Die Beziehung zu Blanche schildert bereits die erste Szene: Sie kniet vor ihm auf dem Boden, um ihm einen Hosenknopf anzunähen. Die damit verbundene sexuelle Anspielung verdeutlicht seine Vorstellung von Frauen. Rein und sinnlich, Heimchen und Hure, den Haushalt in Ordnung halten und die sexuellen Phantasien erfüllen; zusammengefaßt in einer Einstellung.

Wie die Wohnung mit Stilmöbeln eingerichtet ist, so entstammen auch seine Verhaltens- und Umgangsformen einer anderen Zeit. Das hat er mit der Renaissance gemein, die sich an der Antike orientierte. Und mit zweierlei Maß zu messen, das hat auch eine Tradition. Zwar fordert Charles von seiner Schwester, sie solle doch endlich einmal ausgehen und sich Freunde suchen, bezeichnet es aber als geschmacklos, als er sie ertappt, wie sie vor einem Spiegel kokett zu moderner Musik (Lene Lovich) tanzt. Erotik und Familie bleiben immer fein säuberlich getrennt, das hat schon sein Vater getan, der mit einer Sängerin aus dem „Pigall’s“ eine Affäre hatte.

Im weiteren Verlauf geht es dann mehr um gefallene Engel, Engel der Sünde und der Verführung. Charles findet in einem alten Smoking seines Vaters einen Liebesbrief von dessen ehemaliger Geliebter. Auf der Suche nach dieser Frau lernt Charles das Mädchen Clementine (Claire Pascal) kennen, die sich im Kostümlager des „Pigall’s“, wo ihre Mutter auftritt, eine eigene kleine Traumwelt aus Plüsch und Seide eingerichtet hat, in der sie Nachmittage damit verbringt, alleine Tango zu tanzen.

Die junge Französin Caroline Roboh, die das Regie-Handwerk in einer Kooperative erlernt hat, verwendet diese Geschichte nur als Aufhänger, um Charles in die schillernde Welt des Cabaret einzuführen, die ihren ganzen Zauber entfaltet, um Charles einzufangen, ihn zu verführen. Charles erfährt, daß Clementines Mutter die Geliebte seines Vaters war, Clementine selbst also seine Halbschwester. Das aber ist eigentlich ohne Belang, dient nur dazu, ihm einen weiteren Halt zu nehmen und für die Verführungskünste des Travestie-Paares Arturo (A. Bracchetti) und Josephine (J. Larsen) empfänglicher zu machen. Die anfangs erzählte Geschichte zweier Verliebter wird abgelöst von einer anderen, der Geschichte der Verführung.

Cabaret-Programme sind Nummernrevuen, entsprechend ist CLEMENTINE TANGO inszeniert. Aber es entsteht nicht etwa Zusammenhanglosigkeit, die einzelnen Nummern erfüllen immer eine Funktion, erzählen die Geschichte und treiben sie voran. Im Grunde ist sie selbst eine einzige Cabaret-Nummer: Charles wird dargestellt als eine Karikatur bürgerlicher Umgangsformen und Verhaltensweisen.

Letztlich bilden die beiden Welten keine Gegensätze, sondern die eine hat lediglich den Mut und die Möglichkeiten, die Phantasien und Sehnsüchte der anderen zu artikulieren, sie auf den Bühne darzustellen und sie gleichzeitig zu ironisieren. Die Fähigkeit zur Ironie unterscheidet sie; wenn etwa die Tänzer mit übertriebenen höfisch-devoten Gesten Charles nachäffen oder wenn Josephine Larsen in einer hinreißenden Nummer ganz in Leder von „Sweet Decadence“, von der Pervertierung bürgerlicher Formen singt.

Obwohl im „Pigall’s“ alles versammelt ist, was Charles anzüglich und verwerflich erscheint erliegt er dem Spiel von Arturo und Josephine. Denn er muß erkennen, daß er diesen Paradiesvögeln nirgends überlegen ist: die Tänzer sind im Umgang gewandter, und Arturo kennt sich in der Renaissance-Malerei besser aus. Wie seine Arroganz und Ablehnung abnimmt, zeigen die Bilder. Anfangs ist er durch Schnitte vom Geschehen auf der Bühne abgetrennt, die Nahaufnahmen der Künstler wirken bedrohlich auf ihn, später ist er immer öfter mit im Bild.

Bis er am Ende Arm in Arm mit Arturo und Josephine davongeht und sich irgendwo in der Tiefe des Zuschauerraums mit ihnen verliert.

(In München im Isabella.)

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