31. März 1995 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Before Sunrise

BEFORE SUNRISE von Richard Linklater

Wiener Glut

Eines langen Tages Reise in das Morgengrauen: Ein Amerikaner und eine Französin lernen sich im Zug von Budapest nach Wien kennen und haben 24 Stunden füreinander Zeit. Am nächsten Tag müssen beide weiter. Was sie erleben, ist eine Affäre mit festgeschriebenem Verfallsdatum.

Eine Geschichte wie diese liegt normalerweise, zumal im amerikanischen Kino, unter der Wahrnehmungsschwelle des Films. Boy meets girl und sonst nichts: Davon allein mag kaum mehr einer erzählen, weil die meisten keine Worte haben für das, was da passieren könnte. Die einfachste Geschichte der Welt ist eben doch eine verdammt komplizierte Angelegenheit.

Richard Linklater ist mit seinen beiden ersten Filmen SLACKER und DAZED AND CONFUSED unversehens zum Portraitisten der Generation X geworden, jener Leute, für die die Welt weniger Wille als Vorstellung ist. In BEFORE SUNRISE interessiert er sich eher für die Dinge, die diese Generation mit früheren verbinden, als für das, was sie unterscheidet. Der Film ist nicht zufällig seinen Großeltern gewidmet.

Zwei Menschen haben eine Nacht, aber keine Zukunft. Sie wissen nicht, ob sie dem Zufall trauen können. Also lachen sie dem Schicksal etwas verlegen ins Gesicht. Stell dir vor, sagt Jesse (Ethan Hawke) zu Celine (Julie Delpy), du bist irgendwann unglücklich verheiratet und müßtest dir dann denken, vielleicht wäre mit mir alles anders gekommen. Dieser Wechsel zwischen der Wirklichkeit und ihren Möglichkeiten begleitet die beiden auf ihrem Weg durch die Nacht. Das Spiel vom Fragen schlägt immer wieder Löcher in die Gegenwart, in die sich die beiden bereitwillig fallen lassen. Ist das der Anfang, fragen sie sich, von etwas, das nie aufhören wird? Oder schon das Ende von etwas, was nie angefangen hat?

Richard Linklaters Film lebt nicht etwa vom Rhythmus der Stimmungen oder der Melodie der Inszenierung, sondern davon, daß er nicht lockerläßt. Die Fragen, die sich seine Helden stellen, muß der Zuschauer selbst beantworten. Die Situation kennt jeder, aber eine Antwort weiß keiner. Alles in dem Film ist Projektion – wie in der Liebe.

Sie gehen in Kneipen und Bars, spazieren am Fluß und in Parks, besuchen einen Friedhof und fahren Riesenrad und reden und reden und reden. Eine Wahrsagerin liest ihnen aus der Hand, ein Mann schreibt ihnen ein Gedicht, und ein Ehepaar führt ihnen vor, was aus der Liebe werden kann, wenn alles schiefgeht. Julie Delpy und Ethan Hawke geben dieser Geschichte einen Körper, Leben jedoch verleiht ihr erst die Stadt Wien. Dabei ist Linklater weniger am unverwechselbaren Gesicht dieser Stadt interessiert als an der austauschbaren Topographie der Großstadt. Es gelingt ihm, und da ist er ganz Amerikaner, das Bekannte festzuhalten und doch einen ganz eigenen Blick darauf zu werfen. So wird aus Wien ein verwunschener Ort, ein Spiegelkabinett, ein Irrgarten, ein Wunderland.

Am Ende, wenn alles vorbei ist, besucht die Kamera noch einmal die Etappen dieser Nacht, die verlassen im ersten Morgenlicht liegen. Erst die Abwesenheit der Liebenden verleiht ihrer Liebe Gewicht. Auch wenn das Mädchen im selben Moment die Augen schließt und träumt.

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