01. Dezember 1995 | Süddeutsche Zeitung | Film-Tips, Rezension | Film-Tips 01.12.1995

Ein historisches Datum: An diesem Wochenende geht die Nouvelle Vague in Rente, denn ihr Gründer Jean-Luc Godard wird am Samstag 65. Endlich ist er so alt, wie er sich immer schon gefühlt hat. Bereits in seinem Debüt AUSSER ATEM hat Belmondo einem Mädchen, das ihm die Cahiers du Cinéma verkaufen will, klar gemacht, daß er für die Jugend nichts übrig hat. An ALPHAVILLE und EINE VERHEIRATETE FRAU, mit denen die Lupe heute und morgen den Geburtstag feiert, kann man allerdings sehen, daß seine Filme ewig jung geblieben sind.

Blinde sehen

Am Sonntag läuft in der Matinee um 11 Uhr im Arri Ralf Zöllers schöner Dokumentarfilm BILDER VON ANDERSWO, in dem er mit seinem Kameramann Benedict Neuenfels der Welt des blinden Photographen Evgen Bavcar nachspürt.

Im Gasteig zeigt das Cicim am Samstag um 18 Uhr ein Programm mit Dokumentarfilmen, das spannender ist als viele Spielfilme. Jean Painlevé dreht in LE VAMPIRE (1939) zur Musik von Duke Ellington einen Horrorfilm; Georges Franju verwandelt in LE SANG DES BETES (1948) die Schlachthöfe in ein Gedicht; Robert Enrico macht in ThAUMATOPOEA: PITYCAMPA (1960) mit Seidenspinnerraupen einen Science-Fiction-Film; und Jean Rouch erzählt in LES MAITRES FOU von den Haoukas, in deren Trance der Kolonialismus sein wahres Gesicht zeigt.

Amateure der Liebe

Ehe nächste Woche Hal Hartleys neuer Film FLIRT ins Kino kommt, kann man sich im Arena noch einmal vorbereiten. Jeweils um 22.45 Uhr laufen am Freitag AMATEUR, am Sams- und Sonntag SIMPLE MEN und von Montag bis Mittwoch THE UNBELIEVABLE TRUTH – kein anderer Regisseur hat in den letzten Jahren so schöne Bilder für die Gesten der Liebe gefunden.

God Save the Queen

Die Zeit des Punk liegt ungefähr hundert Jahre zurück, weshalb ein Museumsbesuch durchaus wieder mal an der Zeit ist. Das Werkstattkino zeigt bis Dienstag um 21 Uhr Wolfgang Bülds PUNK IN LONDON (1977) und um 23 Uhr Lech Kowalskis D.O.A. – DEAD ON ARRIVAL (1980).

Töchter der Utopie

Im Maxim-Kino läuft eine Reihe über das Filmschaffen von Frauen in den ersten 100 Jahren Kino: BIMOVIE 3 – TÖCHTER DER UTOPIE. Da gibt es einige Klassiker zu sehen wie die Filme von Alice Guy, die von 1896 an Spielfilme gedreht hat (Samstag um 21 Uhr), oder von Maya Deren, der Begründerin der amerikanischen Avantgarde (Dienstag um 21 Uhr). Dazu am Freitag um 20 Uhr Ann Huis ROMANZE VON BUCH UND SCHWERT (1987), ein Schwertkämpfermelo um die Geheimgesellschaft Rote Blume im 18. Jahrhundert; am Samstag um 21 Uhr Vera Chytilovas PANELSTORY (1979), ein Architekturfilm mit weiblichem Blick; am Mittwoch um 21 Uhr Jacqueline Audrys OLIVIA (1951), ein Film über ein Mädcheninternat zu Zeiten der Belle Epoque mit Edwige Feuillère und Simone Simon; und am Donnerstag um 21 Uhr Lois Webers WHERE ARE MY CHILDREN (1916), der erste Film über Geburtenkontrolle und Abtreibung.

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