04. Juli 1992 | Süddeutsche Zeitung | Film-Tips, Rezension | Eindrücke

Filmfest München: Ansichtssachen

Strandgut der Illusionen

Die Reise geht zu Ende. Das Meer der Filme gibt seine Gefangenen frei, Gestrandete am Ufer der Illusionen. Benommen wird man auflesen, was sonst noch an Treibgut angespült wurde: der verstohlene Blick eines Jungen auf die Brüste der älteren Schwester seines Freundes in Wolfgang Beckers Kinderspiele. Die Lichtreflexe im Schwimmbecken, über die sich in Michel Bénas LE CIEL DE PARIS das undurchsichtige Lächeln von Sandrine Bonnaire legt, die immer schöner wird. Albert Finney, der in TWO FOR THE ROAD den guten Tee lobt, und zu hören bekommt, es handle sich bei dem Getränk um Kaffee. Die unendliche Milde in Audrey Hepburns Blick, als sie die stehenden Ovationen entgegennahm. Der verrückt überdrehte Song Speeding Motorcycle in Philip Grönings DIE TERRORISTEN! Der Häßlichkeitswettbewerb in Nancy Savocas DOGFIGHT, wo Stolz und Demütigung so nah beieinanderliegen. Die Geste, mit der Patrick Bruel in Devilles SWEETHEART Mathilda Mays Fuß in die Hand nimmt, um das Blut von der Wunde zu küssen. Die ausgelassenen Hahnenkämpfe der sieben Brüder auf dem Dorftanz in Stanley Donens MUSICAL. Greta Scacchi, die in THE PLAYER vor dem offenen Kühlschrank steht und sich beim Telefonieren die Achseln mit Eiswürfeln kühlt. Die Schönheit der Frauen, die schon alles gesehen haben: Stephane Audran in BETTY, Lisa Kreuzer in NIE WIEDER SCHLAFEN – NIE WIEDER ZURÜCK und Juliet Berto auf einem Bildschirm in AU PAYS DE JULIETS. Sam Shepards gnadenlose Gelassenheit, wenn er in THUNDERHEART den Grünschnabel Val Kilmer am Flughafen empfängt. Ron Elards völlige Entgeisterung in TRUE LOVE, als seine Angetraute von seinem Ansinnen, in der Hochzeitsnacht mit ein paar Freunden trinken zu gehen, nicht so angetan ist. Die Buchhändlerin Sophie, die am Ende von Hal Hartleys SURVIVING DESIRE völlig verloren dasteht und immer wieder fragt, ob jemand Hilfe braucht. Oder die Kuh, die in HEAR MY SONG in den Brunnen zu fallen droht. Das alles bleibt als Strandgut liegen. Man braucht es nur in die Tasche zu stecken.

Ein Tag bleibt noch, um sich mit Momenten zu versorgen, die das Vergessen überdauern. Die gnadenlose Konsequenz und brutale Schönheit von Nagisa Oshimas TOD DURCH ERHÄNGEN (Gasteig, Vortragssaal, 22.30 Uhr), in dem der zum Tode verurteilte dazu gebracht wird, seine Schuld zu begreifen. Die inzestuöse Phantasie in Steven Spielbergs INDIANA JONES and the LAST CRUSADE (Arri, 0.00 Uhr), die Sean Connery und Harrison Ford als Vater und Sohn im Bett derselben Frau vereint. Die verrückte Faustgeschichte aus dem Swinging London in Stanley Donens BEDAZZLED (BMW-Museum, 18 Uhr). Manoel de Oliveiras historische und literarische Reflektion in A DIVINA COMÉDIA (Carl-Orff-Saal, 20 Uhr). Oder Jean-Jacques Beineix‘ farbige Ekstase BETTY BLUE in der Langfassung. Wie die Maus Frederic kann man da Farben tanken, um über den Winter zu kommen, der uns vom nächsten Filmfest trennt.

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